„Alle die zur Freiheit nicht die Unfreiheit der anderen brauchen, sollen aufstehn“

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Am Sonntag fallen die Masken – geht’s noch? Ein Gastbeitrag von Konrad Seigfried – ehemaliger Erster Bürgermeister der Stadt Ludwigsburg.

Am 2. April enden fast alle Beschränkungen, die mit der noch immer grassierenden Corona-Pandemie zusammenhängen. Nur für Kranken- und Pflegeeinrichtungen gelten noch besondere Regeln und nur noch im öffentlichen Personennahverkehr sind Masken noch Pflicht.

Ich reibe mir die Augen. Hat die aktuelle Infektionswelle nicht gerade ihren Höhepunkt erreicht? Stecken sich nicht gerade immer mehr Menschen an, auch die, die sich immer vorsichtig verhalten haben? (1.800 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner).

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Sterben nicht noch täglich mehr als 300 Menschen an oder mit Corona? Seit dem Beginn der Pandemie sind es bereits 130.244 (Quelle: Zeit Online).

Sind die Infektionszahlen nicht so hoch, wie noch nie in dieser nun schon zwei Jahre andauernden Pandemie?

Nun haben glücklicherweise die beiden Omikron-Varianten leichtere Verläufe, als anfangs erwartet. Eine Überlastung der Intensivstationen ist nicht, wie befürchtet, eingetreten. Aber ist das Grund genug (fast) alle Vorsichtsmaßnahmen aufzuheben?

Ehrlich, ich versteh das nicht. Abstand halten und Masken tragen ist nun wirklich keine allzu große Belastung. Warum warten wir mit der Aufhebung dieser Regeln nicht bis die aktuelle Welle abgeflaut ist? Vielleicht noch vier Wochen.

Manche feiern jetzt gar einen Freedom-Day, einen Tag der Freiheit. Welche Hybris! Ich finde das nachgerade schamlos, angesichts eines parallel stattfindenden brutalen Eroberungskrieges von Russland (oder Putin) gegen die Ukraine, angesichts von Menschen in vielen Staaten (ich nenne nur China, Afghanistan, Saudi-Arabien …), die wirklich und unter massiven Bedrohungen für ihre Freiheit kämpfen. Freedom-Day – so verkommen Begriffe.

In welcher Blase leben wir eigentlich? Wir können es uns erlauben, den Wegfall von vernünftigen Maßnahmen zur Bekämpfung einer Pandemie, wie dem Abstandsgebot und der Pflicht zum Masken tragen, als Wiedergewinn unserer Freiheit zu feiern. Absurd! Ich habe in der letzten Woche das Kino besucht, vor zwei Wochen ein Basketballspiel angeschaut, im Restaurant gesessen und Kultur genossen. Immer unter Beachtung der erforderlichen Regelungen. Meine Freiheit war jedenfalls nicht besonders eingeschränkt.

Und die Leidtragenden? Unsere Pandemiebekämpfung hat sich in den zurückliegenden beiden Jahren immer an den besonders Schutzbedürftigen ausgerichtet. Alte Menschen und Vorerkrankte haben und hatten das höchste Risiko lebensbedrohlich zu erkranken. Für sie und natürlich zu unserem eigenen Schutz und zur Bekämpfung einer weltweiten Pandemie haben wir viele Einschränkungen ertragen. Die Lockdowns waren die schlimmsten. Das bisherige Verhalten und die Impfungen habe dazu beigetragen, diese Pandemie ziemlich gut zu bewältigen. Für diese besondere gefährdeten Menschen wird es jetzt darum gehen sich noch mehr selbst zu schützen. Sie sind es jetzt, die beim Einkaufen zusätzlich gefährdet werden. Sie sind es, die jetzt nicht mehr an Veranstaltungen teilnehmen können und Sie sind es, die sich auch privat noch mehr einschränken müssen!

Wie hat der österreichische Sänger Georg Danzer in seinem Lied „Morgenrot“ schon vor vielen Jahren geschrieben: „Alle die zur Freiheit nicht die Unfreiheit der anderen brauchen, sollen aufstehn“. Die neue große Freiheit von Beschränkungen bedeutet für viele alte Menschen und Menschen mit einer Vorerkrankung einen Verlust ihrer Freiheit.

Warum wir jetzt diesen Öffnungsschritt machen, weiß wohl nur die FDP. Die Bundesregierung hat auf ihr Betreiben das Infektionsschutzgesetz so geändert, dass kaum noch Auflagen möglich sind. „Eigenverantwortung“, ist jetzt das Zauberwort. Das Freiheitsverständnis der Liberalen ist nicht geprägt von Verantwortung, denn Freiheit ohne Verantwortung belastet immer andere. Hoffentlich fällt uns das jetzt nicht auf die Füße und wir stehen bald wieder vor härteren Einschränkungen.

Alle ernst zu nehmenden Virologen sagen deutlich: die Pandemie ist nicht vorbei. Und spätestens im Herbst ist wieder mit einer erneuten bedrohlichen Welle zu rechnen. Wer jetzt zu früh lockert und damit falsche Signale versendet, ist mit dafür verantwortlich, wenn die Impfpflicht nicht kommt und wenn wir im Herbst wieder neue Einschränkungen erleben. Was bleibt ist nichts als Hoffnung.