“Das geht schon fast etwas in Richtung Wählertäuschung” – OB Kandidat Jakob Novotny im Interview

ANZEIGE

„Hallo Brüder & Schwestern, mein Name ist Jakob und ich wohne in der Ludwigsburger Oststadt. Ich bin parteiloser Aktivist und beobachte die Entwicklung der Wohnkrise mit größter Sorge.“ Mit diesen ermahnenden Sätzen, spricht der 26-Jährige Pädagogik-Student auf Facebook seine Follower an und versucht auf diesem Weg immer mehr Anhänger für seine Idee zu gewinnen.

Ludwigsburg24 hat sich mit dem in Aalen aufgewachsenen Mitbewerber um den OB-Posten der Stadt Ludwigsburg unterhalten und dabei einen selbstbewussten Kandidaten getroffen, der kein Blatt vor den Mund nimmt.

 

Was wäre ihre erste konkrete Maßnahme als zukünftiger OB von Ludwigsburg ?       

ANZEIGE

Konkrete, große Schritte & Maßnahmen, für die ich stehe, sind im aktuellen politischen Klima erst möglich, wenn es eine Öffentlichkeit gibt, die informiert und aktiviert ist. Viele Leute wissen zum Beispiel gar nicht, wie verfehlt die aktuelle Wohnungspolitik ist. Mehr als 3000 Menschen suchen aktuell eine Bleibe in Ludwigsburg. Hier wird eine Verdrängungspolitik betrieben. Grünbühl ist wohl als nächstes dran, wenn wieder renoviert und neu gebaut wird, ohne nennenswert Sozialwohnungen zu schaffen.

Der Bau dieser wird systematisch verschleppt, zum Beispiel mit dem Modell “fair wohnen“, mit dem die beiden anderen Kandidaten, Herr Spec und Prof. Knecht werben. Dieses hat seinen Namen nicht verdient, denn die Preise sind trotzdem hoch. Dazu kommt, dass von ca 1800 dringenden Gesuchen bei der städtischen Wohnungsbau letztes Jahr nur rund 80 vermittelt werden konnten.

Menschen, die seit Jahrzehnten in Ludwigsburg leben und arbeiten, die hier ihr soziales Umfeld haben, werden aus der Stadt entfernt. Das liegt einfach daran, dass unsere Stadt geführt wird wie ein Unternehmen. Wir sind die Mitarbeiter, und wer nicht genug beitragen kann, wird gekündigt und muss gehen.

Es muss Öffentlichkeit geschaffen werden, um Druck auf den viel zu zögerlichen Gemeinderat auszuüben. Deswegen würde ich als meine erste Maßnahme als Oberbürgermeister einen Wohnungsnotstand ausrufen und eine große Kundgebung zur aktuellen Situation abhalten. Dann würde ich mich dafür einsetzen, dass Ludwigsburg so schnell wie möglich einen sozial-kommunalen Wohnbau nach dem Wiener Modell implementiert. In Wien leben 62% der Bevölkerung in einer städtischen Wohnung, das sind über eine Millionen Menschen. Dadurch, dass der Einfluss von Akteuren wie Banken und privaten Immobilienunternehmen, die mit einem Grundbedürfnis Geschäfte machen wollen, beschränkt ist, sind die Preise dort deutlich niedriger als bei uns. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Ludwigsburgs Mieten sind deutlich teurer als die einer europäischen Millionenstadt.

 

Werden Sie im Falle einer Stichwahl weitermachen?

Ich will die Wahl gewinnen. Es geht einfach um zu viel. Die Wohnkrise bringt viele Menschen an den Rand ihrer Existenz, und die Klimakrise ist im vollen Gange. Bis 2030 sollen wir laut Pariser Klimaabkommen klimaneutral sein. Und der Bürgermeister wird für 8 Jahre gewählt – bis 2027! Allein deswegen musste ich kandidieren.

Ich bin nicht gekommen, um etwas Applaus zu bekommen, mir dann in Verhandlungen nach dem ersten Wahlgang Honig um den Mund schmieren zu lassen und dann abzutreten. Ich bin angetreten, um echten Wandel zu erreichen, weil immer mehr Menschen diesen für nötig sehen. Ich kandidiere nicht, um an den Ecken und Ränder unseres Systems ein paar Kanten abzufeilen. Die Menschen, die mich wählen, wollen echte Veränderung. Ich würde meine Glaubwürdigkeit verlieren, wenn ich mich auf faule Deals einlasse.  Es sieht nicht so aus, als würde ich konkrete Zusagen bekommen, was die Umsetzung meines Wahlprogramms angeht. Trotzdem werde ich nach der Wahl mit allen Kandidaten zusammensetzen, einfach nur, um die Lage zu sondieren.

Es sieht so aus: Die Themen, die ich für wichtig halte, werden von den anderen Kandidaten überhaupt nicht angegangen. Herr Spec hat viele Unterstützer bei den Unternehmern, die aus meiner Sicht die Sozial & Klimapolitik für wenig relevant halten. Prof. Knecht darf es sich mit keiner Partei, die ihn unterstützt, verscherzen. Außerdem ist er in Interviews mit Ahnungslosigkeit betreffend der Wohnbaupolitik und dem Ausmaß der Krise aufgefallen. Keiner von beiden will die Ursachen der Wohnkrise bekämpfen, nur die Symptome verwalten.

Interessant ist auch Herr Knechts neues Plakat: “Zukunft braucht besseres Klima“. Das geht schon fast etwas in Richtung Wählertäuschung – denn klimapolitisch bezieht er keine einzige eindeutige Position. Die Bürger wollen Klimaschutz für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen – das Klima innerhalb des Gemeinderats ist den meisten egal.

 

Zur Podiumsdiskussion am 27.06. wurde nur Herr Spec und Prof. Knecht eingeladen.

Ich glaube, dass meine Kandidatur für viele Menschen sehr unangenehm ist, die den “Status Quo“ als gottgegeben ansehen. Ich finde es ehrlich gesagt auch etwas beschämend, dass die Stadt selbst keine offizielle Kandidatenvorstellung abgehalten hat. Wie soll lokale Demokratie gelebt werden, wenn Sie von oben unterdrückt wird? Demokratie ist ein Wettbewerb der Ideen, denen sich Mensch anschließen können, oder auch nicht. Deswegen halte ich das für eine Beschneidung politischer Partizipation. Die anderen beiden Kandidaten und ich haben uns aber etwas einfallen lassen: Wir werden eine Gegenveranstaltung abhalten! Und zwar gegenüber vom Scala, auf der Bärenwiese parallel zur Podiumsdiskussion der STZ (27.Juni 18.30). Meet & Greet, Fragerunde und Diskussion. Für die Menschen, die ein wahrhaft anderes Ludwigsburg wollen. Nehmt eine Decke mit, wir stellen Kaltgetränke so lange der Vorrat reicht.

 

Sehen Sie sich als eine Art moderner Robin Hood?

Aktuell herrscht eine große Umverteilung von unten nach oben. Wir haben eine absolute Schieflage. Während das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands jährlich steigt, also mehr produziert und erwirtschaftet wird,  steigt auch die Armutsquote. Ein solches System kann sich auf Dauer nicht erhalten. Die Wohnkrise ist ein perfektes Beispiel dafür: Menschen, die kein Wohneigentum haben, müssen im Durchschnitt jedes Jahr mehr Geld an die überweisen, die dieses besitzen. Bis sie es sich nicht mehr leisten können und alles verlieren.

Ein solches System muss geändert werden. Dabei geht es nicht um die kleinen privaten Vermieter. Es geht um Mietwucher und die systematische Spekulation der Banken und der Immobilienkonzerne. Wenn jemand dieses wichtige Thema damit abtun will, mich Robin Hood zu nennen, soll er das tun.

 

Wo siedeln Sie Ludwigsburg auf einer Scala von null/Ghetto bis zehn/Traumstadt aktuell an?

Es ist natürlich immer Definitionssache – für jeden sieht eine Traumstadt anders aus. Ich sehe die Sache so: Meine Traumstadt ist eine Stadt, die gerecht mit allen ihren Bürgern umgeht und alle Interessen unter einen Hut bringt. Dabei sind Grundbedürfnisse zu priorisieren, und nicht Profite. Des Weiteren wünsche ich mir eine Stadt, die nicht nur gegenüber dem Menschen gerecht ist, sondern auch ihrer Umwelt. Von daher ist Ludwigsburg aktuell für mich eher eine 4 oder eine 5. Als Tourist würde ich aber eine 9 geben.

 

Inzwischen werden Sie von vielen Menschen ernst genommen – Sind Sie ein wenig stolz darauf?

Die Menschen nehmen mich ernst, weil ich ernste Themen anspreche, informiert bin und seriöse Lösungsvorschläge in den Diskurs einbringe. Dabei nehme ich kein Blatt vor den Mund. Heute haben die Menschen oft keine Lust mehr auf Politik, weil alles nur beschönigt wird und sich für sie oft kaum etwas ändert. Wenn die anderen Kandidaten einen Wahlkampf führen würden, der sich auf Inhalte und Maßnahmen konzentriert, würde ich wahrscheinlich weniger Erfolg haben.

 

Falls es mit dem OB-Posten nicht klappen sollte. Wie geht es weiter?

In 8 Jahren kann viel passieren. Ich werde mich in Zukunft auf jeden Fall weiter zivilgesellschaftlich engagieren. Ich will über die Wahl hinaus eine Plattform aufbauen, die junge, informierte Kandidaten in Wahlkämpfe schickt und auch etablierte Politiker unterstützt, wenn Sie sich konsequent für Anti-Korruptions-Gesetze, für ernsthaften Klimaschutz und Friedenspolitik einsetzen.

 

Ayhan Günes und Patricia Leßnerkraus