Personelle Wegwerfmentalität im Profi-Fußball: Ein offener Brief von Manfred Haas

In einem offenen Brief hat der ehemalige VfB-Präsident Manfred Haas (79) sich zur aktuellen Lage des Vereins aus Cannstatt geäußert. Haas, der in der Zeit zwischen 2000-2003 Präsident des VfB war, wendet sich in dem Schreiben an alle VfB’ler.

Hier der offene Brief im Wortlaut: 

“Liebe VfB-Freunde,

mein Herz blutet, wie das Eure auch. Mir fällt es unglaublich schwer anzunehmen, dass wir schon wieder abgestiegen sind.

Es sind  Fehler gemacht worden. Von meiner Seite nochmal ins Detail zu gehen, gibt keinen Sinn. Alles liegt von den verschiedenen Seiten offen auf dem Tisch. Unser Präsident nimmt sich nicht aus und übernimmt durch eigene Aussagen auch die Verantwortung. Aber wer handelt, hat nie die Garantie, dass alles gut ausgeht. Eines sollte man gerechterweise anmerken: ich kann nicht erkennen, dass irgend etwas nicht in guter Absicht geschehen ist. Ich kann auch nicht erkennen, dass Präsident Dietrich alles alleine entschieden hat. Mehr oder weniger war die ganze Führung des VfB beteiligt.

Auch aus meiner eigenen früheren Erfahrung weiß ich, dass der Präsident immer an allem schuld ist. Aber so einfach kann man es sich nicht machen.

Inzwischen ist von den Verantwortlichen entscheidend gehandelt worden. Aus dieser Verantwortung sollten wir auch niemand entlassen. Die personelle Wegwerfmentalität, die inzwischen in der Bundesliga eingekehrt ist, halte ich nicht für etwas Gutes. Was gewinnen wir bei einer Abwahl des Präsidenten? Eine monatelange Führungslosigkeit an der Spitze. Das könnte schon ein Punkt sein, der einen sofortigen Wiederaufstieg erschwert. Die Diskussion über einen geeigneten Kandidaten kann uns noch weiter entzweien. Wolfgang Dietrich und seine Kollegen können Aufstieg. Das sollen sie uns auch nochmal beweisen.

Bei der Abstimmung über den Antrag zur Abwahl des Präsidenten geht es für mich vordergründig um eine Person. Um alte Rechnungen, aus einer Zeit vor einem Engagement beim VfB und um Genugtuung für den sportlichen Misserfolg, für den viele verantwortlich sind, zuallererst die Mannschaft.

Am Sonntag geht es um etwas weitaus Größeres, nämlich die Frage, in welche Richtung unser Verein langfristig geht und wer die Geschicke des VfB in Zukunft nachhaltig bestimmt. Die Kräfte, die sich spontan und impulsiv von Emotionen leiten lassen, oder der Teil unserer Mitglieder, der sich nicht weniger leidenschaftlich, aber geleitet von Langfristigkeit, Substanz und der Vernunft für unseren Verein einsetzt.

Manfred Haas (79) war Nachfolger von Gerhard Mayer-Vorfelder und Präsident des VfB in der Zeit von 2000-2003.

Diese Richtungsentscheidung ist nicht mit einer Diskussion Pro- oder Contra Wolfgang Dietrich zu verwechseln. Wer meint, der Präsident hat schlechte Arbeit geleistet und müsse ersetzt werden, der möge im kommenden Jahr, nach Ende der regulären Amtszeit, einen anderen Kandidaten wählen. Unser Vereinsbeirat hat klar ausgedrückt, dass er in jedem Fall zwei Kandidaten vorschlagen wird. Es wird also mindestens eine Alternative zu Wolfgang Dietrich geben, falls dieser überhaupt noch einmal antreten wird.

Wer aber am Sonntag, mitten in der sportlichen Vorbereitung den Präsidenten abwählen will, den möchte ich gerne fragen, was er sich davon verspricht. Die sportlichen Weichen  für die kommende Saison sind mit Thomas Hitzlsperger, Sven Mislintat, Tim Walter und einem fast rundum erneuerten Kader fix gestellt. Eine Abwahl ändert also nichts an dem, um was es uns allen geht: dem sportlichen Erfolg oder Misserfolg der Mannschaft. Wenn überhaupt entstünde wie gesagt Unruhe zur Unzeit.

Wir haben eine tolle Mitgliederschaft. Sie war der Atem, der uns vor 2 Jahren in der zweiten Bundesliga getragen hat.  Ein phantastischer Zusammenhalt hat sich bei den Heimspielen in  durchschnittlich 53 000 Zuschauern gezeigt. Nur ein solcher Zusammenhalt kann uns in schweren Zeiten weiter führen. Wir haben wie andere Bundesligaclubs unterschiedliche Strukturen in der Mitgliedschaft. Die normalen und die extremen. Der Umgangston der zweiten Gruppe hat Formen angenommen, die unerträglich sind. Bei uns ist dies wohl in erster Linie die Retourkutsche für die Ausgliederung. Obwohl im Weltfußball die herkömmlichen Vereinsformen längst ausgedient haben. Das kann man bedauern, aber nicht ändern.

Solche Umgangsformen sind leider Teil unserer Gesellschaft allgemein geworden. Wir sollten an unserer gewachsenen VfB-Kultur festhalten und alle Auswüchse nicht tolerieren. Deshalb bitte ich Sie herzlich: Kommen Sie zur Mitgliederversammlung und geben Sie zu dem TOP-Punkt, Abwahl des Präsidenten, in diesem Sinne Ihre Stimme ab.

Herzlichst Euer ehemaliger Präsident

Manfred Haas