Putin rechtfertigt Krieg: Tucker Carlson veröffentlicht erstes TV-Interview seit Kriegsbeginn

Moskau – Russlands Präsident Wladimir Putin hat in seinem Fernsehinterview mit US-Moderator Tucker Carlson den Angriff auf die Ukraine erneut mit historischen Ansprüchen und einer vermeintlichen Bedrohung durch den Westen begründet.

Gleich zu Beginn des zweistündigen Interviews ergoss sich der russische Präsident in eine längere geschichtliche Abhandlung, die gewisse Ähnlichkeiten mit seiner Fernsehansprache wenige Tage vor dem Angriff auf die Ukraine vor zwei Jahren hatte. Selbst Carlson, der ansonsten betont devot Fragen stellte, zeigte sich nach einer Weile davon genervt.

Deutschland, die USA und andere Länder hätten ihr Versprechen gebrochen, die Ukraine nicht in die Nato aufzunehmen, so der Präsident. “Wir möchten niemanden angreifen”, sagte Putin, er wolle nur das russische Volk verteidigen. Russland werde weitere Länder wie Polen oder Lettland nicht attackieren und unter keinen Umständen Soldaten dorthin schicken – außer wenn das Land von dort aus angegriffen werde.

Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj warf Putin erneut vor, Neonazis zu unterstützen. Und erneut zeigte er sich bereit, den Krieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Russland habe bereits ein Dokument für die zurückliegenden Verhandlungen mit der Ukraine in Istanbul vorbereitet, dieses sei jedoch abgelehnt worden. Die Ukraine hat in der Vergangenheit immer wieder einen vollständigen Rückzug russischer Truppen gefordert, und will mittlerweile auch die Krim zurück

Das Verhalten Deutschlands im Bezug auf die Nord-Stream-Pipelines und die gekappte Gasversorgung bezeichnete Putin als logisch nicht nachvollziehbar. Die Bundesregierung sei mehr von anderen westlichen Ländern getrieben als von den eigenen Interessen.

Das Interview wurde nach Angaben von Carlson bereit am 6. Februar im Moskauer Kreml aufgezeichnet. Es ist das erste TV-Interview, das Putin seit Kriegsbeginn einem westlichen Journalisten gegeben hat. Carlson war jahrelang Moderator beim US-Nachrichtensender “Fox News” und dort unter anderem für nahezu bedingungslose Unterstützung von Donald Trump und manchmal auch für die Verbreitung von Verschwörungstheorien bekannt. Seit seinem Rauswurf bei “Fox News” veröffentlicht Carlson regelmäßig Beiträge im Internet. Das Putin-Interview generierte in der Nacht auf Freitag allein auf Twitter in der ersten Stunde der Veröffentlichung über zehn Millionen Abrufe.

red

Handballfieber in Ludwigsburg: Eine vielversprechende Saison mit klaren Zielen

Die Stadt Ludwigsburg erliegt dem Handballfieber, und die Vorfreude auf die neue Saison ist regelrecht spürbar. Mit dem Beginn der Saison am kommenden Samstag richten sich die gespannten Blicke auf das, was da kommen mag. Nachdem der Aufstieg in die Verbandsliga in der letzten Saison nur knapp verpasst wurde, startet das Team des HB Ludwigsburg, angeführt von Trainer Jörg Kaaden, mit klaren Zielen und einem durchdachten Plan in die kommende Spielzeit.

In einem exklusiven Interview mit LB24 gewährt uns Trainer Kaaden Einblicke in die Pläne seines Teams. Dabei stehen nicht nur vielversprechende Verstärkungen im Mittelpunkt, sondern auch die Strategie, auf die eigene Jugend zu setzen. Was einst als Underdog begann, ist nun ein Team mit klaren Ambitionen. Diese Saison verspricht eine aufregende und spannende Reise für alle Handballfans in Ludwigsburg und darüber hinaus zu werden.

Ein Interview von Ayhan Güneş

LB24: Nachdem der Aufstieg in die Verbandsliga in der letzten Saison nur knapp verpasst wurde, stellt sich die Frage nach den Zielen für die kommende Saison. Welche Ambitionen hat das Team für die bevorstehende Spielzeit?

Jörg Kaaden: Ja, die Erwartungen sind nach unserem Erfolg im letzten Jahr spürbar gestiegen. Dennoch bleibe ich persönlich und in Abstimmung mit unserem Verein am Kurs unseres Dreijahresplans. In der vergangenen Saison war unser Ziel klar definiert: der Klassenerhalt, den wir bereits frühzeitig sichern konnten. Für die kommende Saison lautet unser Ziel, uns im oberen Drittel der Liga zu etablieren, idealerweise unter den Top 3. Wenn wir dieses Ziel früher erreichen sollten, umso besser. Unser Blick richtet sich stets nach oben. Unsere Vorbereitung hat gezeigt, wo wir stehen und welches Potenzial in unserem Team steckt. Daher sind wir voller Zuversicht.

LB24: Im ersten Jahr haben es Aufsteiger oft leichter, da sie von den meisten Gegnern unterschätzt werden. Diese Situation wird sich wahrscheinlich in diesem Jahr ändern. Erwarten Sie eine insgesamt schwierigere Saison ?

JK: Ja und nein, wie Sie sagen, das zweite Jahr wird immer schwieriger. Wobei wir, wenn man die Staffelkonstellation anschaut, auf viele neue Teams treffen, und uns sieht man als drittplatzierten im letzten Jahr in der Landesliga. Wir haben 7 neue Gegner, 7 neue Mannschaften in der Staffel. Wir müssen uns das erarbeiten, dessen sind wir uns bewusst. Das Überraschungsmoment des Underdogs besitzen wir nicht mehr. Entsprechend müssen wir eine Schippe drauflegen

LB24: Welche Verstärkungen und Transfers haben Sie für die Mannschaft vorgenommen, um Ihre Ziele in der kommenden Saison zu erreichen?

JK: Wir haben gezielt nach Verstärkungen gesucht, um unsere Offensivleistung zu steigern. Ein wichtiger Neuzugang ist Nico Schöck (20), ein talentierter Linkshänder mit einer imposanten Größe von 1,98 Metern. Er kommt vom SV Kornwestheim 2 und wird sicherlich unsere Angriffsoptionen erweitern.

Am Kreis haben wir mit Fabian Hilsenbeck ebenfalls vom SV Kornwestheim 2 einen Spieler  mit einem ähnlichen Spielcharakter wie Nick Luithardt gewonnen. Dies wird unsere Variabilität im Angriff erhöhen. Zudem haben wir mit diesen Zugängen unsere Abwehr verstärkt, was uns in der vergangenen Saison zeitweise gefehlt hat. Felix Kerber ist ein weiterer Neuzugang im Tor, er kommt für Sven Bartels, der nach Frankfurt gezogen ist.

LB24: Es gab jedoch auch Abgänge

JK: Ja, es gab auch Abgänge. Unser Mannschaftskapitän Viktor Schneider hat sich im entscheidenden Spiel das Kreuzband gerissen und wird uns leider länger fehlen. Auch Steffen Rook und Moritz Kraak haben ihre Handballkarriere beendet.

Diese Abgänge sollen auch durch unsere eigene A-Jugend kompensiert werden. Wir haben 4-5 vielversprechende Talente in unseren Reihen, auf die ich vollstes Vertrauen habe. Sie werden die Gelegenheit erhalten, im Männerbereich ihre Erfahrungen zu sammeln. Unsere Strategie, auf die Jugend zu setzen, setzt sich also fort und sendet ein starkes Signal an unsere Nachwuchsspieler.

LB24:  Das war schon in der letzten Saison so, dass Sie auf die Jugend gesetzt haben. Welche jungen Spieler werden wir in dieser Saison sehen, und wie schätzen Sie ihre Leistungsfähigkeit ein?

JK: Ja, definitiv. Wie bereits erwähnt, haben wir einige vielversprechende junge Spieler, die eine wichtige Rolle in dieser Saison spielen können. Wir haben aktuell fünf A-Jugendspieler, die in unserem erweiterten Kader sind: Mark Weigand, Finn Würth, Luke Bayer, der bereits letzte Saison gezeigt hat, was er kann, und der neu hinzugekommene Lasse Küchenthal vom TV Bittenfeld sowie Julien Schmidt. Diese jungen Talente werden definitiv ihre Chance bekommen, und ich habe volles Vertrauen, dass sie das Potenzial haben in der Zukunft wichtige Rollen zu übernehmen.

LB24: Hat sich die Qualität des Kaders im Vergleich zur letzten Saison verbessert? Haben Sie ein stärkeres Team?

JK: In der Vorbereitung konnten wir uns steigern. Wir hatten unter anderem Spiele gegen Teams aus der Württemberg-Liga wie Fellbach und Schozach-Bottwartal, bei denen wir teilweise oder auch über 60 Minuten auf Augenhöhe agierten und am Ende nur knapp verloren haben.

Dies war ein entscheidender Schritt für uns und zeigt, dass wir uns verbessert haben. Allerdings müssen wir konstant auf diesem Niveau spielen. Das hat in der Vorbereitung noch gefehlt, aber wir arbeiten hart daran. Letzte Saison hatten wir das Problem, dass wir gut gestartet sind, dann aber unnötige Punkte liegen gelassen haben. Dieses Jahr sind wir einen Schritt weiter. Wir haben auch einige neue Spieler, die unser Team verstärken.

LB24: Wie schätzen Sie den ersten Gegner am kommenden Wochenende, den TSV Willsbach, ein?

JK:  Der TSV Willsbach, Aufsteiger aus Heilbronn, war vor zwei Wochen ein Turniergegner. Dabei traten beide Mannschaften nicht in Bestbesetzung an, und wir haben einige taktische Dinge ausprobiert. Leider waren diese erfolgreich (lacht), was psychologisch gesehen immer schwierig ist. Wenn man einen Gegner in der Vorbereitungsphase deutlich geschlagen hat, muss das schnell aus den Köpfen. Ich habe mir die Details des kommenden Spiels noch nicht genau angesehen. Aber rein von der körperlichen Präsenz her schätze ich sie als eine harte Nuss für uns ein. Es ist jedoch unser erstes Heimspiel, und die Rollen sind klar verteilt.

LB24: Wer sind Ihrer Meinung nach die schärfsten Konkurrenten in dieser Saison?

JK: Es ist immer schwierig, genaue Prognosen zu treffen, da sich die Dynamik im Laufe der Saison ständig ändert. Aber wenn ich einige Teams hervorheben müsste, würde ich Oppenweiler 2, Kornwestheim 2 und Mundelsheim als starke Konkurrenten in dieser Saison betrachten. Reservemannschaften haben oft die Möglichkeit, mit jüngeren, talentierten Spielern zu punkten, die in der ersten Mannschaft möglicherweise weniger Spielzeit erhalten. Daher sind diese Teams oft besonders gefährlich. Auch Asperg sollte nicht unterschätzt werden.

LB24: Dürfen die Fans auf irgendwelche Überraschungen in Ihrer Spielweise in dieser Saison hoffen? Gibt es taktische Neuerungen oder Veränderungen im Vergleich zum letzten Jahr?

JK: Definitiv. Wir werden in dieser Saison unsere taktische Vielfalt ausbauen. Im vergangenen Jahr hatten wir bereits den besten Angriff der Liga, und daran wollen wir anknüpfen. Sie können sich also auf viele Tore von uns freuen. Wir haben auch in der Vorbereitung verstärkt daran gearbeitet, unsere Defensive zu stärken. Dabei haben wir eine offensivere Abwehrvariante hinzugefügt, die Sie in dieser Saison sehen werden. Insgesamt denke ich, dass wir uns taktisch weiterentwickelt haben und einige neue Elemente in unser Spiel integrieren werden.

LB24: Sie haben zu Beginn über den 3-Jahres-Plan Ihres Teams gesprochen. Könnten Sie uns mehr darüber erzählen? Wie sieht dieser Plan aus?

JK: Die Verbandsliga ist als unser langfristiges Ziel klar definiert, sowohl von meiner Seite als auch vom Verein. Wir streben sportliche Erfolge an, wobei natürlich immer im Hinterkopf behalten werden muss, dass diese nicht immer planbar sind. Letzte Saison haben wir bereits eine positive Entwicklung gezeigt, und in dieser Saison wollen wir noch einen Schritt weitergehen. Dabei müssen wir auch unvorhergesehene Ereignisse berücksichtigen, wie beispielsweise Verletzungen. Ein solches unglückliches Ereignis war die Kreuzbandverletzung unseres Kapitäns Viktor Schneider, die uns überraschte und uns vor neue Herausforderungen auf dieser Position stellten. Dennoch sind wir hochmotiviert und freuen uns auf die kommende Saison. Wir werden von Anfang an Vollgas geben und hoffen erneut auf die begeisterte Unterstützung unserer Fans.

LB24: Hat Ihr Kader genug Qualität, um in dieser Saison die Meisterschaft zu gewinnen?

JK: JA

Herr Kaaden, wir danken Ihnen fürs Gespräch und wünschen viel ERFOLG!

Wer ist Jörg Kaaden ?

Jörg Kaaden, ein 45-jähriger Handball-Enthusiast, bringt nicht nur sein Fachwissen in den Sport ein. Als verheirateter Vater von zwei Kindern ist er in der malerischen Stadt Marbach zu Hause. Abseits des Handballfeldes ist er ein leidenschaftlicher Koch und ein versierter Gärtner, der seine grünen Oasen hegt und pflegt.

In seiner eigenen Handballkarriere spielte Kaaden erfolgreich für die Stuttgarter Kickers und den TSV Schmiden und konnte in verschiedenen Ligen beachtliche Erfolge feiern, darunter den Gewinn der Württembergischen Meisterschaft.

Seit 2022 überträgt er seine Leidenschaft und sein Wissen als Trainer des Männer-Teams des HB Ludwigsburg sowie als Handball-BW Stützpunkt Trainer für die aufstrebende männliche Jugend in Bietigheim. Seine jahrelange Erfahrung wird durch eine C-Lizenz seit 2009 und eine B-Lizenz seit 2013 im Handballsport untermauert.

Die Führung einer Stadt inmitten globaler Krisen: Oberbürgermeister Knechts Halbzeit-Bilanz in Ludwigsburg

Am 30. Juni 2019 wählten die Bürgerinnen und Bürger überraschend Dr. Matthias Knecht mit einem deutlichen Zuspruch von 58,45 Prozent bereits im ersten Wahlgang zum neuen Oberbürgermeister der Stadt Ludwigsburg. Sein Amt trat der 48-jährige Politiker am 1. September desselben Jahres an und beendete damit die 16-jährige Regentschaft seines Vorgängers Werner Spec. In der frühen Phase seiner Amtszeit wurde der parteilose Knecht unmittelbar mit einer wahrhaftigen Feuerprobe konfrontiert – der verheerenden Corona-Pandemie, gefolgt von einer beispiellosen Abfolge globaler Krisen, darunter der Ukraine-Krieg, die Flüchtlings- und Wirtschaftskrise. Diese epochalen Herausforderungen ließen seine Verantwortung keineswegs leichter erscheinen. Mit nunmehr vier Jahren seiner insgesamt 8-jährigen Amtszeit hinter sich, ziehen Ludwigsburg24 und Dr. Knecht eine Zwischenbilanz. In einem exklusiven Gespräch reflektiert der promovierte Jurist ausführlich über seinen außergewöhnlichen Amtsantritt und schildert über die intensiven Eindrücke und Herausforderungen, denen er von Anfang an gegenübersteht.

Ein Interview von Ayhan Güneş

LB24: Was waren die Höhepunkte Ihrer Amtszeit als Oberbürgermeister von Ludwigsburg in den vergangenen vier Jahren?

OB Knecht: Ich habe das Privileg, mit einem unglaublichen Team zusammenzuarbeiten. Das hat sich insbesondere gleich zu Beginn meiner Amtszeit während der Corona-Pandemie und jetzt auch in der Ukraine-Krise gezeigt. An diesen Herausforderungen sind wir als Stadtverwaltung gewachsen und haben uns auf den Weg gemacht, viele inhaltlichen Themen voranzubringen. Im engen und äußerst vertrauensvollen Zusammenspiel mit dem Gemeinderat haben wir Soforthilfe geleistet und erfolgreiche Maßnahmen ergriffen, wie unter anderem das Aktionsprogramm für den Einzelhandel in der Stadt.

Wir haben wichtige Beschlüsse gefasst, darunter den Neubau des Bildungszentrum West, die Grundlagenbeschlüsse für die Stadtbahn und die Beschlüsse für unverzichtbare Maßnahmen des Klimaschutzes. Die Ansiedlung oder Erweiterung von namhaften Unternehmen wie Roche, Stihl und Lapp Kabel oder Start-Ups wie Instagrid stärkt die wirtschaftliche Stabilität der Stadt. Die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Rede von  Charles de Gaulle an die deutsche Jugend und der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinermeier zum 75-jährigen Bestehen des Deutsch-Französischen Instituts waren großartige Veranstaltungen.

LB24: Eine neue Städtepartnerschaft hat es ebenfalls gegeben. Das ist heutzutage eher eine Seltenheit.

OB Knecht: Stimmt, Sie sprechen von der Partnerschaft mit Bergamo in Italien. Das ist wirkich etwas Besonderes. Eine wunderbare Stadt, die zu uns paßt. Es ist ein schöner  Erfolg, diese Stadt für uns einnehmen zu können.

LB24: Was waren Ihre größten Herausforderungen?

OB Knecht: Zunächst ist es klar, dass ich die Corona-Pandemie und den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die damit verbundenen Auswirkungen auf unsere Bürgerschaft in Ludwigsburg nenne. Es ist keine schöne Aufgabe, Sperrzeiten zu kontrollieren, Maskengebote zu erlassen oder Weihnachtsmärkte abzusagen. Und natürlich ist es eine große Herausforderung, die Zivilgesellschaft, die für Integration und sozialen Zusammenhalt unheimlich viel leistet, jetzt auch noch mit Containerdörfern zu belasten. Aber wir tun dies, um Sport- und Kultureinrichtungen offenhalten zu können.

Losgelöst von den beiden Themen gibt es im Bereich Wohnungsbau große Herausforderungen. Obwohl wir mit unserer städtischen Tochter der Wohnungsbau Ludwigsburg eine starke Partnerin haben, stehen wir vor Schwierigkeiten. Die Baupreise sind explodiert und die Finanzierung wird teurer. Ein Beispiel dafür ist das Wohngebiet Grünbühl, wo wir geplant hatten, 420 Wohneinheiten zu errichten, aber bisher nur etwa die Hälfte fertiggestellt wurde.

LB24: Sind steigende Mieten ebenfalls ein Problem?

OB Knecht: Ja sicher! Die Mietpreise steigen und steigen. Momentan bekommen wir das nicht in den Griff, wenn wir auch gewisse Spitzen durch unsere Wohnungsbau abfedern können.

LB24: Fehlen in Ludwigsburg nicht auch Sportstätten?

OB Knecht: Sie sprechen unter anderem vom Sportpark Ost. Wir haben bereits einige kleine Projekte wie die Tennisplätze und das Projekt der Reisser Stiftung umgesetzt. Aber die Sporthalle Ost fehlt unter anderem noch. Hoffentlich können wir noch in diesem Herbst den Baubeschluss für die Sporthalle fassen und mit dem Bau beginnen. Dies hätte ich mir schon vor einigen Jahren gewünscht. Lösungen für Oßweil und Poppenweiler hatte ich eigentlich auch versprochen. Jetzt fehlt uns aber das Geld. In Oßweil könnte eine Sanierung die Lösung sein. Das besprechen wir im Herbst mit dem Stadtteil.

LB24: Der Klimawandel wird den städtischen Haushalt zusätzlich belasten?

OB Knecht: Der Beschluss zum Klimaneutralitätskonzept wurde im Dezember 2022 gefasst. Unser Konzept ist vom Land als vorbildlich ausgezeichnet worden, aber es verursacht auch hohe Kosten, die wir ohne Förderung schlicht nicht stemmen können. Expertinnen und Experten sprechen von rund zwei Milliarden Euro, die bis 2035 auf uns zukommen werden. Das ist für uns ohne Förderung von EU, Bund und Land nicht machbar.

LB24: Sie haben zu Beginn Ihres Amts gesagt, dass Oberbürgermeister zu sein, Ihr Traumberuf sei. Nach vier Jahren im Amt, sind Sie immer noch derselben Meinung oder haben sich Ihre Ansichten geändert?

OB Knecht: Die vier Jahre haben meine Einschätzung zu 200 Prozent bestätigt: Es ist mein Traumberuf!  Was wäre gewesen, wenn ich kein Oberbürgermeister geworden wäre? Vielleicht wäre ich jetzt Präsident einer Hochschule oder weiter in einem juristischen Beruf tätig. Aber aus meiner Sicht wäre das ein Stück weit langweiliger, weil es nur ein Handlungsfeld wäre. Als Oberbürgermeister habe ich unter anderem mit Kultur, Bildung, Klima, Mobilität, Wirtschaftsförderung und Sport zu tun. Es ist eine unglaublich vielfältige Tätigkeit, daher bin ich weiterhin mit Begeisterung dabei! Ich gehe immer noch jeden Tag mit großer Freude zur Arbeit. Ein weiterer Aspekt: In Krisensituationen wie der Corona-Pandemie oder der Flüchtlingskrise merkt man, dass man für die Bevölkerung und die Verwaltung eine immense Verantwortung trägt, und dem stelle ich mich. Es macht unglaublich viel Freude und gibt viel Kraft, wenn man seinen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt leisten kann.

LB24: Gibt es Entscheidungen, bei denen Sie im Nachhinein sagen, dass Sie sie vielleicht anders hätten treffen sollen?

OB Knecht: Natürlich gibt es solche Dinge, bei denen man denkt, dass sie nicht optimal waren und man sich anders hätte verhalten können. In Situationen mit hoher Emotionalität, in denen Krieg, Krise und wirtschaftliche Herausforderungen zusammentreffen, ist eine noch größere Sensibilität im Umgang mit den Menschen erforderlich. Beispielsweise beim Thema der Prüfung der Landeserstaufnahmeeinrichtung hätten wir sensibler kommunizieren müssen, nicht nur wir als Stadt, sondern auch das Land Baden-Württemberg. Zudem denke ich oft über die kurzfristige Absage des Weihnachtsmarktes 2021 wegen der Corona-Zahlen nach. Vielleicht hätten wir da früher die Reißleine ziehen sollen oder gar eine Durchführung ermöglichen sollen. Im Freien, mit Abstand und frischer Luft wäre es vielleicht doch vertretbar gewesen. Das trifft sicher auch auf die eine oder andere Corona-Maßnahme wie Maskengebote im Freien zu. Dafür waren sie in den Innenräumen sicher für viele lebensrettend.

LB24: Was haben Sie daraus gelernt?

OB Knecht: Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass Themen und aktuell zu entscheidende Entwicklungen frühzeitig und ausführlich kommuniziert werden. Denn man kann Menschen nicht in einem dreizeiligen Facebook-Eintrag verständlich machen, worum es geht. Die Bedeutung der Kommunikation wird mit jedem Tag, aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen, der Flüchtlingsfrage und der politischen Herausforderungen, noch wichtiger. Ich glaube, in vielen Bereichen tun wir dies bereits, aber es wird jetzt noch zentraler. Wir müssen definitiv mehr Zeit für Erklärungen einräumen, um den sozialen Zusammenhalt zu bewahren.

LB24: Angesichts einiger Vorfälle in Ludwigsburg könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Sicherheit in der Stadt beeinträchtigt ist. Wie würden Sie die aktuelle Sicherheitslage in Ludwigsburg einschätzen?

OB Knecht: Ich persönlich habe nicht wirklich dieses Gefühl! Natürlich gibt es bestimmte Ecken, um die wir uns Sorgen machen müssen. Zum Beispiel der Arsenalgarten, wo wir Maßnahmen mit der Polizei ergreifen mussten, oder der Akademiehof, wo wir festgestellt haben, dass sich dort eine inakzeptable Situation entwickelt. Wir schauen sehr genau hin, und reagieren auch entsprechend. Aber aus vielen Gesprächen kann ich sagen, dass die Menschen, auch die älteren,  sich weiterhin wohl in Ludwigsburg fühlen. Es ist eine großartige Stadt zum Leben. Das bestätigen viele Umfragen.

LB24: Die Bevölkerung wird bunter. Kann das nicht auch zum Problem werden?

OB Knecht: In Zeiten wie diesen erfordern der soziale Zusammenhalt und der soziale Frieden höchste Aufmerksamkeit und größtmöglichen Einsatz. Die Ängste, Befürchtungen oder Kritik aus der Bevölkerung nehmen wir ernst und vorverurteilen nicht. Wir versuchen nur zu erklären, dass subjektive Wahrnehmungen oft nicht die allgemeine Lage abbilden. Wir haben klare Statistiken, die belegen, dass zum Beispiel der Bahnhof oder die Innenstadt keine Kriminalitätsschwerpunkte sind.  

LB24: Der Bahnhof scheint ein Brennpunkt zu sein.

OB Knecht: Wie gesagt, es gibt einen Unterschied zwischen dem subjektiven Sicherheitsgefühl und objektiven Daten. Das hat unser Projekt „SiLBer“, das dazu Forschungsarbeit geleistet hat, eindrucksvoll bewiesen. Es ist nicht einfach, subjektive Wahrnehmungen zu ändern. Deswegen laufen bereits seit zwei bis drei Jahren Gespräche mit dem Eigentümer des Bahnhofs. Wir versuchen, eine gemeinsame Lösung zu finden, um das Bahnhofsgebäude besser zu gestalten – in Verbindung mit dem Franck-Areal. Wie schnell ungenutzte Fläche durch junge Unternehmen – die Spaß, Kultur und mehr bieten – aufgewertet wird, lässt sich hier beobachten. Es braucht oftmals keine jahrelang ausgearbeiten Konzepte, sondern manchmal nur den Mut, Neues zu probieren!

LB24: Verliert Ludwigsburg an Strahlkraft?

OB Knecht: Ich denke nicht, dass Ludwigsburg an Attraktivität verliert. Wir haben immer noch viele Menschen in der Stadt, aber ihre Aktivitäten und die Zeiten, in denen sie diesen nachgehen, haben sich teilweise geändert. Die Innenstadt bietet Erlebnisse, Treffen mit Freunden und vieles mehr neben dem so wichtigen klassischen Einkaufen! Unser Einzelhandel ist der Grundpfeiler einer florierenden Innenstadt! Aber das Bewusstsein der Bevölkerung hat sich natürlich auch verändert, es wird mehr online eingekauft. Wir müssen die Innenstadt neu denken und andere Nutzungen fördern. Wohnen sollte eine größere Rolle spielen, vielleicht sogar mit Veränderungen im Baurecht, um Wohnraum auch im Erdgeschoss zu ermöglichen. Gesellschaft, Stadt, Wirtschaft sortieren sich neu. Dafür müssen wir als Politik und Gesetzgeber die Weichen stellen.

LB24: Der Einzelhandel bereitet doch Probleme?

OB Knecht: Wichtig ist zu differenzieren. Die Bedeutung des Einzelhandels für das Antlitz einer Innenstadt ist unersetzbar. Mit dem Versanden des klassischen Ladengeschäfts nimmt die Aufenthaltsqualität ab. Das sehen wir bereits in ganz vielen Städten. Dagegen spielt der Einzelhandel im Einkaufsverhalten der Menschen weiterhin eine Rolle, aber seine Bedeutung nimmt ab. Ich klicke zweimal auf mein Smartphone und bekomme mein Lieblingsessen und den Film, den ich lange nicht gesehen habe, gleichzeitig in mein Wohnzimmer. Natürlich leiden die Städte darunter! Deswegen müssen wir mit unserem Innenstadtverein LUIS immer wieder Anreize schaffen, die es lohenswert machen, unsere Stadt zu besuchen. Wer einmal an einem lauen Freitagabend auf dem Marktplatz bei einem guten Essen und dem Freiluftkonzert der Schlossfestspiele saß, der weiß, wovon ich spreche. Das gibt es eben nicht daheim! Die Verbindung zwischen Einzelhandel, Gastronomie und Kultur ist ganz zentral.

LB24: Können Sie die Ängste und Befürchtungen der Protestler, die sich gegen die LEA (Landeserstaufnahmeeinrichtung) richten, nachvollziehen?

OB Knecht: Ja, ich kann die Ängste und Befürchtungen der Protestierenden nachvollziehen. Das System der LEAs ist nicht gut, besteht aber aktuell. Natürlich könnte das Land überlegen, ob es sinnvoller wäre, ein zentrales Zentrum mit größeren Kapazitäten zu schaffen und dann in den Kommunen mit kleineren Einheiten zu arbeiten. Statt 5-6 LEAs mit jeweils etwa 1000 Personen könnte das Land vielleicht eine Einrichtung für 5000 bis 6000 Menschen schaffen. Wer dann nicht zurückgewiesen wird, sollte schnell vor Ort in kleineren Einheiten wohnen und integriert werden.  

Grundsatzproblem an der Sache sind die EU-Außengrenzen bzw. die Verteilung der Menschen in Europa. Es kann doch nicht sein, dass Baden-Württemberg mehr Menschen aufnimmt als beispielsweise ganz Frankreich. Ich verstehe die Kritik am bestehenden EU-System und teile diese. Die demokratischen Kräfte der EU müssen den Menschen wieder viel mehr zeigen, dass sie die Sorgen und Ängste im Blick hat. Wenn wir den ständig den Zusammenhalt in der Bevölkerung fordern, muss das in der Politik vorgelebt werden. Das fehlt mir derzeit auf Bundesebene.

LB24: Ist der LEA-Standort Ludwigsburg eine Option?

OB Knecht: Ich habe im März betont, dass der Standort Schanzacker nur als Notlösung und unter scharfen Bedingungen in Betracht kommt. Meine Bedingungen sind weiter nicht verhandelbar. Durch das Nein der Kommunalpolitik in Tamm, Asperg und Ludwigsburg sehe ich gegenwärtig keine LEA am Standort Ludwigsburg.

LB24: Darf man Neuankömmlinge nur als Belastung sehen?

OB Knecht: Nein, das geht an der gesellschaftlichen Entwicklung tatsächlich vorbei. Ich würde sogar sagen, dass wir dringend eine besser gesteuerte Zuwanderungspolitik benötigen. Es fehlen uns hunderttausende Arbeitskräfte, nicht nur Fachkräfte! Es ist aber entscheidend, dass wir die Zuwanderung klug steuern und die Menschen schnell in Bildung und den Arbeitsmarkt integrieren. Wir sollten keine Angst vor Menschen aus dem Ausland haben, solange sie sich in unsere Gesellschaft einfügen, arbeiten und integrieren möchten. Wir müssen dafür sorgen, dass sie schnell in Arbeit kommen und nicht lange in Flüchtlingsunterkünften bleiben.

LB24: Angesichts des Engagements der Ludwigsburger Firma MHP – a Porsche Company als zukünftiger Namensgeber der Spielstätte des VfB Stuttgart, wie beurteilen Sie diese Entscheidung und welche Auswirkungen erwarten Sie für die MHP-Arena und die Ludwigsburger MHP-Riesen?

OB Knecht: Für MHP ist das eine großartige Sache, ich habe ein tolles Verhältnis zu dem Unternehmen und habe zu diesem Schachzug gratuliert. Als OB von Ludwigsburg muss ich realistisch sein und weiß, dass Fußball die Top-Sportart in Europa ist und enorme Aufmerksamkeit generiert. Natürlich ist es uns wichtig, dass die MHP Riesen weiterhin in gleichem Maße unterstützt werden, denn diese sind unser Ludwigsburger Aushängeschild! Das hat mir CEO Dr. Ralf Hoffmann aber bereits vor der Veröffentlichung des neuen Engagements zugesichert. Deswegen sehe ich keine Konflikte.

LB24: Wie haben Sie von den Änderungen erfahren?

OB Knecht: Wie gesagt, ich hatte vor der Veröffentlichung der Nachricht ein Telefonat mit dem Vorstandsvorsitzenden von MHP, Dr. Ralf Hoffmann. Er versicherte mir, dass das Engagement keine negativen Auswirkungen für den Ludwigsburger Sport haben wird, auch nicht in den nächsten Jahren.

LB24: Bedeutet das, dass wir den Oberbürgermeister von Ludwigsburg häufiger in der MHP Arena in Stuttgart erleben werden als bei den Basketballern in Ludwigsburg?

OB Knecht: Auf gar keinen Fall! Ich bin durch und durch überzeugter Basketball-Fan und werde regelmäßig auch bei anderen Sportarten weiter in den Hallen hier in Ludwigsburg anzutreffen sein. Was den Fußball in Stuttgart betrifft, so wird man mich weiterhin höchstens einmal im Jahr dort sehen. Auch für die Kultur gilt: lieber Ludwigsburger Schloßfestspiele als Staatsoper!

Herr Dr. Knecht, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Türkische Wahl und deutsche Politik: Die türkische Gemeinde im Fokus – Interview mit Macit Karaahmetoglu

Am 28. Mai erzielte Amtsinhaber Erdogan einen knappen Sieg in der Stichwahl um das höchste Amt der Türkei und wird somit weiterhin als Staatspräsident fungieren. Die politischen Ereignisse im Vorfeld und im Nachgang dieser emotional geführten Wahl entfachten leidenschaftliche Diskussionen und hitzige Debatten, sowohl in der Türkei als auch hierzulande in Deutschland. Inmitten dieses aufgeladenen politischen Klimas äußerte sich der SPD-Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoglu aus Ludwigsburg in einem exklusiven Interview mit Ludwigsburg24 zu den brisanten Themen. Das Gespräch beleuchtet eine Vielzahl facettenreicher Aspekte und bietet einen eindrucksvollen Einblick in das Wahlverhalten türkischer Staatsbürger in Deutschland sowie die Beweggründe deutscher Politiker, die sich entschieden gegen Erdogan positionierten. Zudem äußerte Karaahmetoglu eine kritische Haltung gegenüber Agrarminister Cem Özdemir aufgrund seines umstrittenen Vergleichs, der eine breite Debatte auslöste und zu kontroversen Reaktionen führte.

Ein Interview von Ayhan Güneş

LB24: Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, sowohl im ersten Wahlgang als auch in der Stichwahl, haben sich zahlreiche deutsche Politikerinnen, Politiker und Mandatsträger öffentlich geäußert. Die Vorsitzenden der Grünen haben eine eindeutige Haltung gegenüber Präsident Erdogan eingenommen und klar dazu aufgerufen, nicht für ihn zu stimmen. Auch Sie haben sich gegen Erdogan ausgesprochen. Was ist die Motivation solcher Äußerungen?

MK: Es ist ein Unterschied, ob man als einzelner Abgeordneter wie ich sagt, dass man sich einen Erfolg der Opposition wünschen würde oder ob Parteivorsitzende sowie Bundesminister eine explizite Wahlempfehlung abgeben. Zweites halte ich für bedenklich. Es war unterm Strich eine Unterstützung von Erdogan, der sich in seiner Erzählung, westliche Mächte würden sich ständig einmischen, bestätigt sehen konnte. Ich glaube, dass die Grünen eigentlich mit einem außenpolitischen Thema Innenpolitik betrieben haben. Sprich: Sie wollten bei deutschen Wählerinnen und Wählern punkten mit einem populistischen Wahlaufruf.

LB24: Warum wurde im Vorfeld von Wahlen wie beispielsweise in Russland 2018 oder China keine solchen Aussagen und Empfehlungen abgegeben? Was waren die Gründe für diese Zurückhaltung?

MK: Das hat vor allem damit zu tun, dass die Türkei für uns ein besonders wichtiges Land ist. Es hat strategisch gesehen eine große Bedeutung, da es sich in einer Region befindet, in der es viele Konflikte und Krisen gibt. Die Türkei liegt zwischen Europa, Asien und Afrika. Zudem ist sie nach wie vor EU-Beitrittskandidat und NATO-Mitglied, wir haben starke wirtschaftliche Beziehungen und eine bedeutende türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland. Die Geschichte zwischen Deutschland und der Türkei ist tiefgreifend und hat starke Traditionen. Aus diesen Gründen ist die Türkei für uns ein wichtiges Land.

LB24: Russland und China sind ebenfalls bedeutende Länder für Europa und Deutschland, und auch hier leben eine beträchtliche Anzahl an Russlanddeutschen.

MK: China kann man nicht mit Russland oder der Türkei vergleichen, da es geografisch weit entfernt ist und es hier vergleichsweise wenige Chinesen gibt. Die Verbindung zu China ist eine andere. Was Russland betrifft, gibt es hier in Deutschland zwar viele Menschen russlandstämmiger Herkunft, das Land ist aber weder mit der EU noch der NATO verbunden. Entscheidender Unterschied ist zudem, dass die Türkei eine starke Zivilgesellschaft hat und Machtwechsel grundsätzlich durch Wahlen möglich sind. Das hat man bei den Kommunalwahlen 2018 gesehen.

LB24: Viele türkischstämmige Wähler in Deutschland fühlten sich von Politikerinnen und Politikern bevormundet, da diese klare Wahlempfehlungen gegen Erdogan und für die Opposition aussprachen. Es entstand der Eindruck, dass sich die Politik nicht um ihre Belange und Bedürfnisse kümmert, es sei denn, es geht um Erdogan. Hat sich diese Strategie letztendlich als kontraproduktiv erwiesen?

MK: Man muss berücksichtigen, dass wir uns in einem freien Land befinden, in dem man sich auch frei äußern darf. Dass dies auch zu einem Land wie der Türkei passiert, zu dem wir  starke Verbindungen haben, ist daher völlig klar. Millionen von Menschen machen Urlaub in der Türkei, es gibt deutsch-türkische Familien und rund 3 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben hier. Daher ist es natürlich, dass sich die Menschen für die Türkei interessieren und ihre Meinung äußern möchten. Ich selbst wurde in der Türkei geboren und habe starke Verbindungen zu diesem Land. Folgerichtig interessiere ich mich für das politische Schicksal der Türkei und äußere auch meinen Wunsch, dass das Land auf den Pfad der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt.

Auf der anderen Seite halte ich es für falsch, wenn nicht nur Einzelpersonen und Abgeordnete sondern Institutionen und sogar Parteien solche Vorschläge machen oder Wahlempfehlungen abgeben. Die türkischstämmigen Menschen haben dann natürlich einen Punkt, wenn sie sagen, dass ihre Anliegen nur selten Beachtung finden, man sich dann aber für sie interessiert, wenn sie Erdogan wählen.

LB24: Würden Sie diese Wahl als Schicksalswahl bezeichnen?

MK: Ich persönlich halte es nicht für angemessen, jede Wahl in der Türkei als Schicksalswahl zu bezeichnen. Die Grundbedingungen der Wahl waren nicht fair dadurch dass Erdogan 90% der Medien kontrolliert. Er führte einen schmutzigen Wahlkampf, in dem er die Opposition mit Lügen überzog. Er präsentierte sogar ein gefälschtes Video vor Zehntausenden von Zuschauern und verbreitete es über die kontrollierten Medien weiter. Alles stand unter dem Ziel, den Oppositionsführer in die Nähe der Terrororganisation PKK zu rücken.

Trotz dieser massiven Propaganda gelang es Erdogan am Ende nur, 52 Prozent der Stimmen zu erhalten. Das zeigt, dass wir in der Türkei eine starke Zivilgesellschaft und eine starke Opposition haben. Mit dieser Wahl ist vielleicht der Weg für die nächsten Jahre aber gewiss nicht das Schicksal des Landes besiegelt worden.

LB24: In Deutschland haben rund 730.000 Wähler (entspricht 67 %) für Erdogan gestimmt, was im Vergleich zur Türkei und anderen Ländern außerhalb der Türkei eine sehr deutliche Mehrheit darstellt. Wie erklären Sie sich das?

MK: Es gibt drei Gründe dafür. Der erste Grund ist, dass viele Türken, die in Deutschland leben, aus den Erdogan-Hochburgen Schwarzes Meer und Inneranatolien stammen, wo die Mehrheit bereits konservativ geprägt ist und daher eine natürliche Nähe zur Partei AKP und Erdogan empfindet.

Der zweite Grund ist – wir haben es eben schon angerissen – dass viele Menschen mit türkisch-muslimischem Hintergrund in Deutschland das Gefühl haben, benachteiligt zu sein. Sie empfinden zudem, dass die Türkei nicht die Wertschätzung erhält, die sie verdient, und dass sie selbst als Bürger dieses Landes abschätzig behandelt werden. Sie haben das Gefühl, als Menschen zweiter Klasse betrachtet zu werden. Viele von ihnen fühlen sich diskriminiert bei der Wohnungssuche und der Jobsuche. Das Thema der doppelten Staatsbürgerschaft betrifft sie ebenfalls, da sie oft davon ausgeschlossen sind. Das kommunale Wahlrecht ist ein weiteres Thema, bei dem sie benachteiligt werden. All diese Formen der Benachteiligung führen dazu, dass Erdogan für viele dann die Antwort ist. Er gibt ihnen das Gefühl, etwas wert zu sein. Er hat die Türkei zu einer regionalen Macht geformt und gilt als starker Mann, der all diesen Ungerechtigkeiten und den Staaten des Westens etwas entgegenzusetzen hat.

Der dritte Grund ist, dass die Türken in Deutschland sich fast ausschließlich aus Medienquellen informieren, die von Erdogan kontrolliert werden. Das betrifft fast 90 Prozent der Medien, die von den Deutsch-Türken nahezu ausschließlich konsumiert werden. Dadurch entsteht natürlich ein Bild von Erdogan, das nicht der Realität entspricht.

LB24: Nachdem bekannt gegeben wurde, dass Erdogan die Stichwahl gewonnen hatte, kam es spontan zu Jubelfeiern und Autokorsos in vielen deutschen Städten, einschließlich Stuttgart und der Region. Es entstand der Eindruck, als hätte die Türkei die Fußballweltmeisterschaft gewonnen, obwohl es eigentlich nur eine innenpolitische Wahl war.

Wie ist das zu erklären?

MK: Das zeigt die emotionale Seite der gesamten Situation. Man kann sagen, dass es zwei Mannschaften gibt: das türkische Team und das türkeikritische Team. Die Menschen haben den Eindruck, dass das pro-türkische Team gewonnen hat, und das ist der Grund für die Feiern. Es ist wichtig zu betonen, dass dies nur ihre persönliche Empfindung ist und nicht die objektive Realität widerspiegelt. Aus ihrer Perspektive haben diejenigen verloren, die die Türkei nicht lieben und den Türken etwas Schlechtes wünschen.

LB24: So gesehen war es mehr als nur eine politische Wahl.

MK: Es ist klar, dass es für die Türken eine emotionale Angelegenheit war. Für viele war die Wahl Erdogans gleichzeitig eine Gelegenheit, der Mehrheitsgesellschaft, die die Türken und die Türkei so wenig wertschätzt, einen Denkzettel zu verpassen. Es ging ihnen um mehr als nur politische Entscheidungen.

LB24: Viele Menschen haben auch für die Opposition gestimmt. Wie gedenken Sie und Ihre Partei nach der Wahl mit diesen enttäuschten Menschen umzugehen?

MK: Es ist wichtig, immer wieder deutlich zu machen, dass eben knapp die Hälfte der Wählenden für die Opposition gestimmt hat. Die pro-demokratische türkische Zivilgesellschaft muss sichtbar bleiben und gehört werden. Das umfasst auch diejenigen, die in Deutschland leben und sich für eine Rückkehr zur Demokratie, die Stärkung von Minderheitenrechten oder den wirtschaftlichen Aufschwung in der Türkei stark machen. Die SPD ist Schwesterpartei der CHP und wird weiter solidarisch an ihrer Seite stehen in der Hoffnung, dass sie eines Tages ein noch besseres Ergebnis zum Wohl der Türkei einfahren kann.

LB24: War es im Großen und Ganzen trotzdem eine demokratische Wahl?

MK: In der Wissenschaft kursiert für die heutige Türkei der Begriff der elektoralen Autokratie. Erdogan ist Autokrat, es finden aber freie Wahlen im Sinne einer weitestgehend freien Stimmabgabe statt. Die Bedingungen vor der Wahl waren aber keineswegs fair. Die einseitige Kontrolle der Medien und die ungleiche Präsenz der Kandidaten haben zu einer Verzerrung des Wahlkampfes geführt. Dies beeinträchtigt die demokratische Legitimation der Wahl. Es ist wichtig, diese Ungleichheiten anzusprechen und sicherzustellen, dass zukünftige Wahlen in der Türkei demokratisch und fair sind, indem gleiche Chancen für alle Kandidaten und Parteien gewährleistet werden.

LB24: Landwirtschaftsminister Cem Özdemir hatte Bundeskanzler Scholz aufgefordert, in Bezug auf die Türkei eine Zeitenwende einzuläuten, indem er die Wahl Erdogans mit dem Angriffskrieg Russlands verglichen hatte. Wie beurteilen Sie diese Aussage?

MK: Ich finde es völlig unangemessen, die Wahl in der Türkei mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auch nur irgendwie zu vergleichen. Und das tut der Begriff „Zeitenwende“ unweigerlich. Die Situation in der Ukraine ist eine humanitäre Tragödie mit schwerwiegenden Konsequenzen für Millionen von Menschen. Solche Vergleiche sollten mit Vorsicht und Sensibilität gemacht werden, um die Ernsthaftigkeit der Ereignisse angemessen zu würdigen. Es ist wichtig, dass politische Aussagen verantwortungsvoll und fundiert sind, um den tatsächlichen Situationen gerecht zu werden.

Herr Karaahmetoglu, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Ex-Gang-Chef von Ludwigsburg: Exklusiv-Interview mit “Der Boxer”

Ein Interview von Patricia Leßnerkraus und Ayhan Güneş

Sein Vorstrafenregister ist ellenlang: Wegen 100-facher Körperverletzung sowie 157-facher räuberischen Erpressung wurde er bereits verurteilt. Die Rede ist von Mustafa Arpacik. In der Szene besser bekannt als, „Der Boxer“. Der in Ludwigsburg geborene Speditionskaufmann ist der ehemalige Chef der größten Ludwigsburger Gang, die seinerzeit sehr oft im Konflikt mit den Gesetzeshütern stand und regelmäßig für Schlagzeilen sorgte.

Der heutige Familienvater von zwei Kindern erzählt im Exklusiv-Interview mit Ludwigsburg24, wie er auf die falsche Bahn geriet, weshalb er sich als Robin Hood sieht und warum er aus seiner Sicht der Polizei mehr Rechte geben würde.

Ludwigsburg24: Mustafa, in Ludwigsburg bist Du kein Unbekannter. Du bist hier geboren, aufgewachsen und hast Dir als junger Mann einen Ruf erarbeitet, der für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Warst Du schon als Kind ein “Bad Boy” ?

Mustafa Arpacik: Nein, so würde ich das nicht sehen. Ich war auch später nicht wirklich ein böser Bube. Laut meiner Mutter war ich bis einschließlich erster Klasse eher zurückhaltend bis ängstlich. Aber schon in der zweiten Klasse habe ich gespürt, dass ich größer und kräftiger bin als meine Mitschüler. Ich kann zurecht behaupten, dass ich schon in der Schule der Stärkste war. Irgendwann während der Grundschulzeit fing ich dann mit Kampfsport an: Judo beim MTV und Karate bei Dieter Wolf. Das war nicht nur gut für den Körper, sondern ebenso fürs Selbstbewusstsein.

Wie waren eure familiären Verhältnisse, was hat Dich geprägt?

Ich habe noch einen älteren Bruder und eine ältere Schwester, war also das Nesthäkchen. Meine Eltern gehörten zur ersten Generation Einwanderer und waren einfache Leute. Mama war 30 Jahre bei Mann+Hummel beschäftigt, Papa hat über 20 Jahre immer wieder durch Gelegenheitsjobs auf verschiedenen Baustellen gearbeitet, beide sind jetzt in Rente. Mal sind sie hier, mal leben sie in der Türkei. Wir hatten nie besonders viel Geld, aber mir ging es trotzdem nicht schlecht, auch wenn meine Eltern sich nicht übermäßig mit mir beschäftigen konnten. Trotzdem sind meine Geschwister und ich anständig erzogen worden. Wir können uns benehmen, sind höflich und hilfsbereit und haben Werte mit auf den Weg bekommen.

Wie verlief Deine schulische Karriere?

Das war zunächst die klassische Laufbahn eines Sohnes von Einwanderern. Ich habe die Grund- und anschließend die Hauptschule absolviert. Dann bin ich sogar weiter auf eine Wirtschafts-Realschule und danach noch aufs Berufskolleg I, wo ich mein Fachabitur abgelegt habe. Im Anschluss habe ich bei Kühne&Nagel eine solide Ausbildung zum Speditionskaufmann durchlaufen.

Du hast sogar mal ein Studium begonnen…

Stimmt, ich habe angefangen Produktion und Logistik zu studieren, habe dann aber abgebrochen. Zum einen hatte ich wenig Lust dazu, zum anderen war ich damals schon verlobt und brauchte dringend Geld.

Das hört sich eigentlich alles ganz normal an. Doch irgendwann muss es einen Wendepunkt in Deinem Leben gegeben habe. Wann war der und wie kam es dazu?

Als ich ungefähr 15 oder 16 Jahre alt war, habe ich gemerkt, dass ich einfach extrem viel Kraft und Energie habe. Ich konnte sehr früh schon Gewichte stemmen, bei denen selbst ein gut trainierter Erwachsener Probleme hatte. Dadurch bin ich dann bereits in sehr jungen Jahren in die Türsteherszene reingerutscht. Mein Freund Yüksel hatte bereits mehr als 10 Jahre Erfahrung im Nachtleben, er hat mich behutsam in die Szene eingeführt, mich mit Rat und Tat unterstützt und mir Taekwondo beigebracht. So habe ich mir langsam meinen Namen erarbeitet, man wusste irgendwann, wer ich bin. Irgendwie habe ich mich zu einer Respektsperson entwickelt, der man nicht gerne widersprach. Nicht umsonst bin ich inzwischen einschlägig wegen 100-facher Körperverletzung vorbestraft. Für mich war es egal, wer vor mir stand, ich war so durchtrainiert, dass ich es immer mit jedem aufnehmen konnte.

Wer nicht spurte, der bekam also eine auf die Zwölf?

Das wäre zu einfach ausgedrückt. Wir waren Sportler, weshalb wir beispielsweise nichts mit Drogen zu tun haben wollten. Auch Zuhälterei war nicht unser Ding. Wer das alles nicht kapierte, musste halt irgendwie vermittelt bekommen, dass er bei uns falsch war. Wir verstanden uns als klassische Türsteher, die den Club aus Überzeugung beschützten.

Was haben Deine Eltern zu Deinem Job gesagt?

Meine Eltern haben lange nichts gemerkt. Sie dachten einfach, ich gehe abends aus. Mein Bruder kam irgendwann dahinter und sagte nur zu mir: „Als Bruder bin ich nicht dabei, also musst du auf deinen Hintern selbst aufpassen. Wenn du das kannst, mach weiter. Kannst du es nicht, lass es.“ Ich war mir meiner Kraft bewusst, zudem musste ich das Geld als Türsteher mitnehmen, denn ich war arbeitslos. Neben diesem Job habe ich mit Boxen begonnen. Schnell stellte sich heraus, dass ich absolut talentiert bin. Da war ich Anfang 20. Dann mit Mitte 20 hatte ich auf einmal verstanden, dass ich eine absolute Respektsperson geworden war, und gründete auf Wunsch eines damaligen Kumpels eine Gruppe, man kann dazu türkische Mafia sagen, deren alleiniger Chef ich war. Die Gruppe umfasste Ludwigsburg, Markgröningen und einen Teil von Stuttgart.

Wer wurde in die Gang aufgenommen?

Jeder, der dazugehören wollte, war willkommen, unabhängig von Nationalität oder Religion. Wichtig innerhalb der Gruppen waren aber Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Loyalität und korrekter Umgang miteinander. Allerdings kamen nicht alle mit den gleichen Erwartungen dorthin. Es kamen halt auch welche, die ihre eigenen Probleme mitgebracht haben und dachten, sie könnten diese mithilfe der Gruppe lösen.

Irgendwann schmolz deine Gang mit einer noch größeren Gruppe zusammen.

Richtig, ich einigte mich mit deren Präsidenten und wir traten seiner Gang bei. So wurde ich Chef einer Gruppe mit auf einmal 300 bis 400 Mitgliedern und einem eigenem Club-Haus. Das war alles so um 2010/2011 ab.

Was war das Ziel oder die Aufgabe der Gang?

Meine Mentalität kam der von Robin Hood gleich. Ich hatte die Absicht, Leute von der Straße aufzunehmen und sie auf einen guten Weg zu lenken: z.B. den Schulabschluss und eine Ausbildung zu machen. Aber meine Absicht war leider nicht die Realität. Jeder wollte plötzlich dazugehören, selbst der Dümmste oder der Schwächste. Das war mir aber anfangs ziemlich egal, denn für mich war vor allem die Mitgliederanzahl und die Menge an Mitgliedsbeiträgen interessant. Das war ein Fehler, denn plötzlich hatten wir u.a. auch Drogendealer in unseren Reihen. Das lag mit daran, dass ich mir nebenher noch einen Autohandel aufgebaut hatte und mich bei der Gruppe nicht mehr um alles selbst kümmerte. Es wurde alles zu viel und ich hatte keinen Einblick mehr in die Details, weil ich vieles an einen Club-Kollegen abgegeben hatte. Der setzte dann halt die Arbeit auf seine Art fort.

Warst Du mit seiner Arbeit nicht zufrieden?

Na ja, was soll ich dazu sagen? Eines Tages bekam ich einen Anruf von einem Hauptkommissar, der sagte: „Arpacik, komm mal bei mir vorbei, wir müssen sprechen“. „Mit der Polizei gibt es nichts zu sprechen“, antwortete ich nur kurz und knapp. „Wenn du nicht kommst, dann kommen wir“, erklärte er knapp. Ich bin dann zwar hin, war aber ziemlich brachial. Im Rückblick frage ich mich, wie blöd, wie dumm kann man sein, aber damals hatte ich die absolute Power und war der Meinung, mir kann keiner was. Ich bin dann zu ihm ihn, wurde sogar mit Kaffee empfangen. Seine Aussage war deutlich: „Arpacik, das hier ist meine Stadt, da hat sich jeder an Regeln zu halten. Ich habe ein Auge auf Dich.“ Ich Idiot habe leider geantwortet: „Pass auf wie du mit mir redest, sonst kommst du nicht nach Hause.“ Nach diesem Satz von mir hat er das Gespräch sofort beendet. Bis heute bereue ich meine dumme Aussage, aber leider lässt sie sich nicht rückgängig machen.

Was ist passiert?

Die Konsequenz für mich folgte prompt, denn man kannte mich bei der Polizei und erkannte meine aufgemotzten Autos jederzeit und überall. Bei jeder Polizeikontrolle wurde ich sofort raus gewunken. Teilweise hatte ich Kontrollen mit bis zu 24 Polizeifahrzeugen. Sie haben das volle Programm abgezogen inklusive Ganzkörperkontrolle. Heute kann ich das Vorgehen nachvollziehen und finde es richtig, denn ich habe schließlich versucht, mich mit der Staatsgewalt anzulegen. Inzwischen weiß ich, dass Polizisten keine Feinde, sondern Freunde sind. Damals fühlte ich mich aber einfach nur von ihnen gemobbt. Und dann kam der Haftbefehl, es war ein Dienstag, genauer gesagt der 25. Oktober 2011. In den frühen Morgenstunden, also um 6.00 Uhr, wurde gegen unsere Tür geknallt, um mich in einem Großeinsatz abzuholen.

Wie lief die Festnahme ab? Angeblich sollen laut eines damaligen Presseberichts der LKZ 450 teils vermummte Beamte zeitgleich 22 Wohnungen im Kreis Ludwigsburg und Stuttgart durchsucht haben.

Ja, über 400 Beamte waren unterwegs und sogar Helikopter waren dafür im Einsatz. Ich dachte, gleich fliegt das Haus weg. Viele der Beamte stürmten in unsere recht kleine Wohnung, Scharfschützen hielten mir Laser vors Gesicht und schrien: „Beweg dich nicht!“. Manche hatten Kabelbinder dabei. Es war gespenstisch und meine arme Frau und meine vier Monate alte Tochter waren mittendrin.

Warum war der Aufwand der Polizei so immens, du warst doch kein gefährlicher Terrorist oder Massenmörder?

Aber mein Täterprofil, das die Polizei von mir angefertigt hatte, war entsprechend. Ich galt als gefährlich, als Kampfsportler, der sich knallhart zur Wehr setzt. Dafür hatten sie sogar das SEK aus Sachsen-Anhalt eingeflogen. Zum Glück war meine Wohnung zu klein, so dass der Großteil der Polizisten vor dem Haus warten musste. Der erste Polizist, der mit Schild reinstürmte, warf sich auf mich, dann sind wir in die Bettkante gestürzt und ich lag plötzlich auf ihm. Die andern dachten, der Arpacik wehrt sich, also haben sie mich sofort mit Kabelbindern gefesselt und ich hatte überall Knie und Fäuste auf meinem Körper. Mit Fußfessel, Handfessel und verpackt wie einer in der Zwangsjacke wurde ich abgeführt. Das war ganz großes Kino.

Was wurde Dir vorgeworfen?

Vorgeworfen wurde mir Bedrohung und räuberische Erpressung sowie Körperverletzung. Ebenso der Besitz von 7 Kilo Kokain, Drogenhandel und Hehlerei, wofür ich aber dann in beiden Punkten freigesprochen wurde, da ich damit definitiv nichts zu tun hatte. Aber einige Gruppenmitglieder hatten damit zu tun und haben behauptet: „Mein Präsident weiß über alles Bescheid.“ Das stimmte aber nicht, denn bei über 300 Mitgliedern weiß ich nicht im Detail, was jeder Einzelne tut. Mir war immer nur wichtig zu wissen, dass jeder seinen Beitrag zahlt, damit wir das Clubhaus und unser Essen und die Getränke finanzieren konnten. Das war leider nur geschäftlich und von daher falsch gedacht.

Welche Anklagepunkte waren denn berechtigt?

Den Vorwurf der 100-fachen Körperverletzung sowie der 157-fachen räuberischen Erpressung kann ich nicht abstreiten. Allerdings habe ich diese Dinge nie aus Streitlust und für mich selbst getan. Ich habe es nur getan, um anderen Menschen zu helfen. Ein Beispiel: Ein Ehepaar hatte einem Freund Geld geliehen, das zahlte er ihnen einfach nicht mehr zurück. Sie brauchten das Geld aber dringend und benötigten Hilfe. Dann kamen wir ins Spiel. Und statt 5.000 Euro haben wir halt 7.000 Euro von ihm geholt. Schließlich musste unsere Gruppe auch von etwas leben, deshalb haben wir die Angst des Schuldners ausgenutzt. Dafür bin ich jetzt einschlägig vorbestraft. Und dass, obwohl ich mich mit 18, 19 Jahren selbst bei der Polizei beworben hatte. Die wollten mich nicht, da habe ich die Seiten gewechselt.

Was ist danach passiert?

Man brachte mich in die JVA Karlsruhe, wo ich in Einzelhaft kam. Das bedeutete für mich 23 Stunden einsitzen in der Zelle, 1 Stunde Einzel-Ausgang. Die Justizvollzugsbeamten habe ich immer höflich und respektvoll behandelt, so dass die irgendwann merkten, dass ich gar nicht so böse bin wie behauptet wurde, weshalb ich endlich beim Ausgang immerhin mit zwei anderen Insassen herumlaufen durfte. Der eine saß wegen Zuhälterei, ihn kannte ich vom Namen. Der andere saß wegen Ehrenmord. Später kam noch ein Dritter aus Anatolien hinzu, der in der Türkei gefälschte Glücksspiele verkauft hatte, aber in Deutschland dafür festgenommen wurde. Dem habe ich sogar meine Hausschuhe gegeben, weil er selbst keine hatte. War ein armer Kerl, der mir allerdings noch eine Menge Ärger einbrachte.

Inwiefern?

Während wir unsere Runden drehten, sagte der eine Insasse: „Ich hau hier bald ab.“ Woraufhin ich erwiderte: „Wenn Du abhaust, haue ich auch ab, mir wurden nämlich neun Jahre angedroht.“ Und was macht der Penner aus der Türkei? Der speicherte sich anscheinend unser Gespräch ab, denn kurze Zeit später musste ich zum Anstaltsleiter. Ich freute mich, denn ich dachte, nun bekomme ich nach 9 Monaten U-Haft in der Einzelzelle endlich eine Erleichterung, darf vielleicht wieder Sport treiben oder etwas einkaufen. Ich sollte mich vorher aber noch ordentlich anziehen, dann wurden mir sogar Handschellen angelegt. Doch statt einer Erleichterung bekam ich einen neuen Haftbefehlt wegen versuchten Mordes und versuchten Ausbruchs. Wieder alle Eliteeinheiten sowie Helikopter vor Ort, Hand- und Fußfessel im Einsatz so wurde ich nach Stammheim verlegt. Normalerweise darf kein SEK-Beamter mit Waffen in eine JVA, in meinem Fall gab es eine Ausnahme. Und wieder kam ich in Einzelhaft. Insgesamt saß ich 1 Jahr und 2 Monate in U-Haft und bin verurteilt wegen einer leeren Flasche Anabolika, wegen mehrfacher räuberischer Erpressung, von denen lediglich zwei bewiesen werden konnten und nur auf Bewährung rausliefen, da sie nicht vollendet waren. Und der letzte Haftbefehl war der wegen einer Schlägerei.

Welchen Weg hast Du nach dem Gefängnis eingeschlagen und wie hat Dich diese Zeit geprägt?

Ende 2012 wurde ich entlassen, mein erster Wunsch war ein richtig guter Döner. Ich wurde draußen zwar noch immer als Chef anerkannt, auch wenn es die Gruppe als solche nicht mehr gab. Weil der Kopf im Gefängnis war, gingen viele ihren eigenen Weg. Das Gefängnis war eine sehr lehrreiche Zeit, weil man da merkt, wer wirklich für einen da ist und sich um die Familie kümmert. Ansonsten sah es nach der Entlassung zunächst trüb aus für mich. Ich war arbeitslos, bezog Hartz IV. Und natürlich habe ich weiterhin anderen Menschen geholfen, die in Schwierigkeiten steckten, die benachteiligt waren oder unterdrückt wurden. Mein Robin Hood-Syndrom hat dann zu einer zweiten Verhaftung geführt.

Wie kam es dazu und wann war das?

Das war 2016, da wurde ich für acht Wochen wegen Bedrohung einer anderen Person eingebuchtet. Ich selbst hatte aber nichts gemacht, war nur anwesend, als ein Kollege einen anderen Mann bedrohte. Deshalb wurde ich am Ende freigesprochen. Zu dieser Zeit machte ich gerade meinen LKW-Führerschein, denn ich hatte zwischenzeitlich eine Partnerschaft mit einem kleinen Unternehmen, das für Ikea Möbel fuhr.

Hast Du die Gründung der Gang und Deine Taten bereut? Schließlich hast Du dadurch Deine Familie in Schwierigkeiten gebracht…

Hätte ich die Gang nicht gegründet, dann hätte es irgendein anderer getan mit einem weniger guten Herzen. Ich war mit der Gang prinzipiell nicht auf Krawall gebürstet, allerdings sind wir bei Ärger nicht davongelaufen. Wenn ich etwas bereue, dann nur, dass ich mich für die falschen Leute eingesetzt habe. Auch heute würde ich jederzeit Menschen helfen, die es verdient haben, wenn sie mich um Hilfe bitten. So bin ich nun mal, das sitzt tief in mir drin. Aber ich würde es heute natürlich anders machen, denn nach zwei Gefängnis-Aufenthalten wird man durchaus schlauer. Man ändert sein Auftreten und auch die Ausdrucksweise.

Wie hast Du Dich zu Deinen Gang-Zeiten gefühlt, wenn Du durch Ludwigsburg gelaufen bist?

Ich bin nie mit meiner Kutte durch die Stadt gelaufen, denn man kannte mich ja als „der Boxer“, „der Türsteher“ oder „der mit dem Porsche“. Allerdings fühlte ich mich unantastbar, weil wir so eine große Gruppenstärke hatten. Man läuft draußen rum mit der Einstellung: „Wer unbedingt paar aufs Maul haben will, der soll sich melden.“ Natürlich hatten die Leute Respekt vor mir. Das gilt bis heute. Es gab sogar Gerüchte, dass selbst die Polizisten sich noch nicht mal getraut hätten, mir einen Strafzettel für falsches Parken zu verpassen. Das stimmt zwar so nicht, denn ich durfte immer hohe Summen abdrücken. Aber wahr ist, dass ich nie einen von den Brüdern gesehen habe. Die haben den Strafzettel zwar ans Auto geklemmt, waren dann aber sofort verschwunden. Begegnen wollte mir wohl niemand. Aber es gibt auch enge Freunde, die sich von mir abgewendet haben, weil sie mit mir nicht gesehen werden wollen. Ich akzeptiere das und es hat mich zum Nachdenken gebracht. Würde ich jetzt die Zeit zurückdrehen können, würde ich dem Mustafa von damals sagen: Mach Deine Schule, mach eine gute Ausbildung und halte dich fern von den falschen Leuten, die du vielleicht gar nicht mal wirklich magst.

Fühlst Du Dich von Polizei und Justiz ungerecht behandelt oder falsch verstanden?

Nein, im Gegenteil, die Bestrafung hat gutgetan. Diese Erfahrungen haben mich zu der Person gemacht, die ich jetzt bin – erfolgreich und finanziell gut gestellt. Heute sage ich sogar: Die Polizei hat viel zu wenig Macht, sie darf zu wenig. Bis es hier zu einem Haftbefehl kommt, dauert es ewig. In Ludwigsburg ist für meinem Geschmack zu wenig Polizeipräsenz, auch wenn die Stadt im Vergleich zu vielen anderen Orten relativ sicher ist.

Wie geht Deine Frau mit Deiner Vergangenheit und dem heutigen Mustafa um?

Meine Frau Demet, sie arbeitet übrigens als Zahnarzthelferin, hat natürlich viel mit mir mitgemacht, aber sie hat immer hinter und zu mir gestanden, was sicherlich nicht immer einfach für sie war. Sie hat mir für die schwierigen Zeiten die nötige Kraft gegeben, alles durchzustehen und auf den richtigen Weg zu kommen. Ihr danke ich von ganzem Herzen für ihre uneingeschränkte Liebe und Unterstützung.

Was hat Dich bewogen, umzudenken und Dein Leben neu zu ordnen?

Ich wollte das für meine Familie tun. Denn inzwischen habe ich sogar zwei Töchter, eine mit 11 Jahren und die andere ist 3. Das ist der eine Punkt. Der andere Grund war schon zu Kinderzeiten ein großer Wunsch von mir: Ich wollte immer finanziell unabhängig und gut gestellt sein. Ich komme aus einfachen Verhältnissen, bin nicht im Wohlstand aufgewachsen und bekam erst ein Fahrrad, als mein Bruder für seines zu groß geworden war. Ich hatte keinen Nintendo oder andere Dinge, die bei anderen Kindern selbstverständlich waren. Mein Umdenken hat nach dem zweiten Gefängnis-Aufenthalt eingesetzt und von da ab habe ich mein Wunschziel verfolgt.

Wie ist Dir das gelungen?

Ich hatte anfangs Menschen, die mir vertraut und mich unterstützt haben. Ihnen bin ich ebenfalls dankbar. Mit einem LKW und Aufträgen der Spedition Schenker habe ich angefangen und habe meine Flotte Stück für Stück ausgebaut. Inzwischen besitze ich eine Spedition in Heilbronn mit 60 Mitarbeitern vor Ort und insgesamt 200 bundesweit und bin finanziell bestens abgesichert. Mit Stolz sage ich: Ich habe mich zu einem guten Geschäftsmann und wichtiger noch zu einem verantwortungsbewussten, liebevollen Familienvater entwickelt. Ich behaupte sogar, ich bin reich. Denn reich ist man, wenn man teilen kann. Und genau das tue ich. Momentan lebe ich die schönste Phase meines Lebens und kann nachts reinen Gewissens ins Bett gehen.

Mustafa, wir danken Dir für das Gespräch!

 

 

 

Werden die Ludwigsburger Haushalte im Winter im Kalten sitzen müssen, Herr Rager?

Johannes Rager ist einer der beiden Geschäftsführer der Stadtwerke Ludwigsburg-Kornwestheim GmbH (SWLB). Im Interview mit Ludwigsburg24 erzählt der 46-Jährige über die Situation auf dem Energiemarkt, wie sich die Gaskrise auf Ludwigsburg auswirkt und was er den Menschen empfiehlt. 

Ein Interview von Ayhan Güneş

Ludwigsburg24: Eine persönliche Frage zum derzeitigen Angstthema Energieversorgung: Heizen Sie Ihre privaten Räumlichkeiten mit Gas?

Johannes Rager: Nein, ich bin Kunde am Fernwärmenetz der Stadtwerke Ludwigsburg-Kornwestheim.

Werden Ihre Gaskunden im kommenden Winter im Warmen sitzen?

Unsere Privatkunden sind geschützt und wir werden alles dafür tun, dass sie im Warmen sitzen werden und es genießen können. Die Verantwortung, die wir als Stadtwerke übernehmen, liegt in einer sicheren Versorgung unserer Netzgebiete mit Erdgas in Ludwigsburg, Kornwestheim, Tamm, Asperg, Möglingen, Marbach, Markgröningen entsprechend dem Energiewirtschaftsgesetz. Sollte zu wenig Gas zur Verfügung stehen, müssen wir die Mangellage gemäß den gesetzlichen Regelungen steuern und ich kann versprechen, dass wir unseren bestmöglichen Job machen werden.

Es ist nachvollziehbar, dass sich viele Menschen Sorgen machen. Können Sie diese Menschen beruhigen?

Ich glaube, es wird auf allen Ebenen alles dafür getan, dass die Menschen im Winter eine warme Wohnung haben. Und dennoch ist der Appell richtig, dass es auch mit etwas weniger Wärme geht und in diesem Fall Solidarität nötig ist. In einem großen Haus zum Beispiel, muss nicht jedes Zimmer beheizt sein. Es sollte jeder darauf achten, seinen Energieverbrauch zu senken. Und 1 bis 2 Grad weniger an Zimmertemperatur hat auch schon großes Einsparpotenzial.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation und ihre längerfristige Auswirkung: Befindet sich Deutschland, bzw. der Landkreis Ludwigsburg in einer Energienotlage?

Nein, aktuell ist alles im grünen Bereich. Wir sind zwar in der Alarmstufe, doch jetzt sind wir mitten im Sommer und die Gaslage ist stabil. Mit Sorge verbunden der anstehende Winter. Bis dahin müssen die bundesdeutschen Gasspeicher gefüllt sein. Da gibt es das vom Bundestag erlassene Gesetz, laut dessen bis 1. Oktober 80%, bis 1. November 90% des Vorrats gefüllt sein müssen. Dies zu erreichen, muss das große Ziel sein. Eine wesentliche Frage wirft jedoch die Wiederinbetriebnahme der Pipeline Nord Stream 1 auf. Sollte dies nicht wie geplant nach der Wartung erfolgen, werden sicherlich weitere Maßnahmen durch die Bundesregierung eingeleitet.

Haben die Stadtwerke eigene Gasspeicher?

Ja, wir haben die Gaskugel und das Gasnetz an sich, denn auch ein Netz speichert Gas, aber das ist keine Menge, die über Tage oder gar Wochen reicht.

Wie lange halten deren Gasreserven? Gibt es dafür eine Statistik? Und gibt es eine Mindestreserve, die absolut notwendig ist?

Oft wird uns die Frage gestellt, wie lange unsere Gaskugel über den Winter reicht. Mit der großen Gaskugel, die sie bei der Autobahneinfahrt Ludwigsburg-Süd steht, gleichen wir nur die Tagesspitzen aus, ansonsten ist sie vom Volumen her für unsere Gasnetzgebiete zu klein. Wenn jedoch die großen Kavernenspeicher wie zum Beispiel Rheden in Norddeutschland zum Winterbeginn mit den vorgeschriebenen Mengen gefüllt sein werden, dann schaffen wir es, gemeinsam mit den anderen Bezugsquellen und allen Einsparungen über den Winter zu kommen.

Die Gaspipeline NordStream1 wurde diese Woche wegen notwendiger Wartungsarbeiten und aufgrund scheinbar technischer Probleme von den Betreibern abgeschaltet. Die Wartungsarbeiten sollen bis 21. Juli dauern. Was passiert, wenn die Wartungsarbeiten länger dauern sollten?

Die Speicher werden in diesem Fall nicht in dem Maße gefüllt, wie wir es uns erhoffen und das Gesetz vorsieht. Deshalb laufen schon jetzt im Hintergrund die Überlegungen, welche Maßnahmen bereits heute ergriffen werden müssen, um vorbereitet zu sein. Im Grunde steht uns alles, was wir über den Sommer sparen, im Winter zur Verfügung, weil diese Menge – soweit technisch möglich – eingespeichert wird.
Die Arbeiten, die derzeit an der Pipeline NordStream 1 stattfinden, sind normal und finden jährlich statt. Es ist also nicht ungewöhnlich, dass wir zu diesem Zeitpunkt kein Gas über diese Pipeline beziehen. Wird sie wieder regulär in Betrieb genommen, dann ist alles in Ordnung. Passiert das jedoch nicht, müssen die Überlegungen weitergehen, wie die Speicher durch andere Bezugsquellen gefüllt werden können und wie wir die Abnahme der Vorräte über den Sommer reduzieren.

Wie muss man sich das ganze Gaskonstrukt als Laie vorstellen?

Es gibt mehrere Pipelines, die durch andere Länder nach Deutschland führen und auch aus Deutschland raus, da wir auch Transit-Land sind. Im Wesentlichen wird das Gas im Förderland, hier Russland, unter hohem Druck in die Pipeline gepumpt und dann in Deutschland entnommen oder weitergeleitet an die Nachbarländer.
Das sind Hochdruckleitungen, damit jeweils eine große Menge an Gas durchkommt. In Deutschland wird das angekommene Gas danach in die unterschiedlichen Regionen transportiert. Das Netz wird nach unten immer feinmaschiger und so gelangt das Gas schließlich nach Ludwigsburg, Kornwestheim und unsere weiteren Netzgebiete. Mit reduziertem Druck leiten wir dies an unsere Kunden weiter. An diesen eben genannten Hochdruckleitungen hängen auch die Gasspeicher. In diesen wird das Gas nochmals mehr verdichtet, damit eine möglichst große Menge gespeichert werden kann.

Kann man beziffern, wie viel russisches Gas in Ludwigsburg ankommt?

Zu Beginn des Ukraine-Kriegs, also zum Ende des Winters, waren es 55 % der Gasmenge. Da unterscheidet sich Ludwigsburg nicht von anderen Städten.

Warum ist das so? Weil wir unser Gas über die Börse beziehen. Und an der Börse wird für uns als Stadtwerke nicht gehandelt, woher das Gas kommt, sondern es werden reine Erdgasmengen und Lieferzeitpunkte gehandelt. Auf der anderen Seite sind Händler, die wiederrum viele Verträge in den unterschiedlichen Förderländern, auch Russland, haben.

Wir als Stadtwerke kaufen an der Börse eine bestimmte Menge an Gas zu einem gewissen Zeitpunkt und für ein bestimmtes Lieferjahr. Wir arbeiten mit Systemen, die anhand der Wettervorhersage die voraussichtliche Menge für die nächsten Tage prognostizieren. Auf Grundlage dieser Berechnung wird die entsprechende Gasmenge aus diesen Verträgen bestellt und geliefert. So läuft, vereinfacht gesagt, im Normalfall die Gasversorgung.

Wenn wir jetzt aber in eine Gasmangellage kommen, was passiert dann?

Tritt dieser Fall ein, würden wir immer noch bestellen, aber unter Umständen das Gas gar nicht oder nicht in der bestellten Menge geliefert bekommen. Wenn das passiert, müssen wir natürlich reagieren.

Da Sie als Stadtwerke Ihr Gas selbst einkaufen, könnten Sie da auch theoretisch Ihren Einkauf direkt bei anderen Ländern tätigen?

Theoretisch gesehen wäre das möglich, aber es ist nicht üblich. Unser Know-how und unser Geschäftsfeld ist das Verteilen von Gas und das Beliefern von Endkunden. Stadtwerke unserer Größenordnung tun das also nicht und es bringt auch für die eventuell anstehende Notfalllage keinen Vorteil. Tritt sie ein, geht es darum, wie verteilt wird und nicht, wer sein Gas woher bezieht.

Spüren Sie als Unternehmen wegen der im Raum stehenden Gaskrise schon eine Veränderung hinsichtlich dem Gasverbrauch bei den Menschen?

Nein, bis jetzt stellen wir keine signifikanten Veränderungen fest. Es ist nicht erkennbar, dass der Gasverbrauch deutlich abgenommen hat, denn er hängt ganz stark von der Witterung ab. Je wärmer es wird, umso weniger wird geheizt. Und für den Warmwasserverbrauch rechnet man lediglich mit zirka 10% des Energiebedarfs im Vergleich zur Heizenergie. An dieser geringen Menge lässt sich ein möglicher Rückgang schlecht festmachen. Wir gehen davon aus, dass wir im kommenden Winter stärkere Einspareffekte sehen werden.

Der Energiepreise sind derzeit sehr hoch, weshalb der Städte- und Gemeindebund letztens vor drohenden Pleiten von Gasversorgern gewarnt hat. Wie gefährdet ist die SWLB?

Die SWLB ist aktuell sehr gut aufgestellt. Wir haben einen eigenen Energiehandel und beschaffen unser Erdgas selbst. Das ist ein komplexes System. Vereinfacht gesagt schätzen wir die zukünftige Kundenzahl und den Verbrauch ab und beschaffen die dafür notwendige Erdgasmenge. Und das tun wir regelmäßig für die nächsten drei Jahre und kaufen das Erdgas scheibchenweise ein. Das gibt unser Risikohandbuch so vor und daraus ergibt sich ein Mischpreis. Wir kaufen also die gesamte Energie nicht zu einem bestimmten kurzfristigen Zeitpunkt ein und sind somit dann auch nicht dem Preis zu diesem einen Zeitpunkt ausgeliefert. Im Gegenteil, durch unsere Einkaufsstrategie kaufen wir auch immer wieder zu preislich günstigeren Zeiten ein. Von dieser Strategie profitieren jetzt unsere Kunden mit Energiepreisgarantie, da wir vor dem Ausbruch des Krieges noch günstiger eingekauft haben und sich dies im Produktpreis der Kunden günstig auswirkt.

Das Risiko, dass Stadtwerke finanzielle Probleme bekommen, kann daran liegen, dass zu wenig Energie in der Vergangenheit eingekauft wurde. Diese Stadtwerke müssten dann die fehlende Energie nachkaufen und die ist im Augenblick exorbitant teuer, wodurch ein Unternehmen wirtschaftliche Probleme bekommen kann. Ob dies bei anderen Unternehmen tatsächlich so ist, kann ich nicht sagen.

Können Sie schon abschätzen, wie stark diese Preisanpassungen ausfallen werden?

Eine pauschale Aussage fällt mir schwer, weil wir viele unterschiedliche Kundengruppen haben, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten Verträge abgeschlossen haben. Für jede dieser Kundengruppen errechnen wir den Preis anhand der aktuellen Situation neu. Früher waren alle Kunden in einem einzigen Tarif, der zu einem gewissen Zeitpunkt angehoben wurde. Heute ist es so, dass die Kunden zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Tarifen bei uns einsteigen und entsprechen müssen dann die Preise zu unterschiedlichen Zeiten angepasst werden. Das muss man immer genau kalkulieren. Aber Fakt ist: Die Preise sind an den Börsen beim Erdgas um das 5-fache im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Das müssen wir in der Kalkulation berücksichtigen und das wird sich auf die Kundenpreise wesentlich auswirken.

Der Präsident der Bundesnetzagentur hat letzte Woche erklärt, dass er eine Mehrbelastung bis zu 3.000 Euro jährlich für den privaten Haushalt befürchtet. Halten Sie das für realistisch?

Der Strompreis an der Börse hat sich versechsfacht, der Gaspreis verfünffacht. Der Staat versucht mit Maßnahmen entgegenzuwirken, so zum Beispiel mit der Abschaffung der EEG-Umlage. Aber diese Maßnahmen werden die Preissteigerungen nicht aufwiegen können. Daher können, je nach Energieverbrauch, solche Steigerungen auf die Kunden zukommen.

Spüren Sie als Stadtwerke einen größeren Zulauf an Neukunden?

Wir spüren diese Zunahme sowohl beim Gas als auch beim Strom. Aber wir spüren es auch darin, dass viele Kunden weg vom Gas und hin zur Fernwärme wechseln wollen. Die Fernwärme hat für den Kunden den Vorteil, dass wir uns als Stadtwerke um die Wärmeerzeugung kümmern. Durch unsere unterschiedlichen Erzeugungsanlagen haben wir zum Beispiel die Möglichkeit, auch unterschiedliche Brennstoffe einzusetzen. In der Fernwärme hatten wir dann innerhalb von zwei Monaten so viele Anfragen, wie sonst im ganzen Jahr. Das war signifikant und selbstverständlich versuchen wir, die Kunden schnellstmöglich ans Netz zu bekommen, was in der Fernwärme nicht ganz so einfach ist, da es sich um das komplexeste Medium handelt und ein Hausanschluss Zeit benötigt.

Über welche Quellen sprechen wir?

Wir haben die Solarthermie-Anlage, unser Vorzeigeprojekt, die im Wesentlichen im Sommer ihre Leistung zeigt. Wir haben ein Holzheizkraftwerk, wo wir zum Beispiel Holz aus Straßenbegleitgrün einsetzen. Des Weiteren haben wir Holzpellet-Anlagen sowie Biomethan- und Biogasanlagen, Geothermie, eine Abwasserwärmepumpe und viele weitere energieeffiziente Anlagen, die an unserem Netz hängen.
Klar ist aber auch, dass ein Großteil der Fernwärme über Gas erzeugt wird. Im Unterschied zum Einfamilienhaus mit einer Gastherme erzeugen wir aus Gas in Blockheizkraftwerken Strom und Wärme unter anderem für die Haushalte. Wir nutzen also das Potenzial von Erdgas viel besser aus.

Was empfehlen Sie potenziellen Kunden, die ein Haus bauen möchten?

Die Fernwärme bietet, wo immer es möglich ist, eine nachhaltige, bequeme und zukunftsgerichtete Möglichkeit zur Wärmeversorgung des Eigenheims. Da sorgen wir für eine zuverlässige Versorgung und mit unseren Nachhaltigkeitszielen auch für eine gute Wärmequalität. Außerhalb der Fernwärmegebiete kommt es stark auf die Gegebenheiten an. In erster Linie sollte ein Neubau so wenig wie möglich Heizenergiebedarf haben.

Was bietet sich stattdessen an?

Es geht mehr in Richtung Wärmepumpe, Photovoltaik und Akkuspeicher. Auch dafür bieten wir Lösungen an. Hinzu kommt das Thema Elektromobilität mit Wallboxen in der Garage und dann merkt man schnell: Es geht immer um Strom, Strom, Strom.
Im Fachjargon bringen wir diese Themen mit dem Begriff Sektorenkopplung zusammen. Es geht dabei im Wesentlichen darum, die Energie aus erneuerbaren Energien möglichst effizient zu speichern und zu verwenden. Damit soll die Energiewende gelingen. Dazu gehören auch die Gasnetze, trotz aller Diskussionen um den Krieg in der Ukraine. Allerdings soll das Gasnetz künftig einen wesentlichen Anteil von Wasserstoff transportieren. Dieser soll aus den erneuerbaren Energien, also zum Beispiel Windkraft, erzeugt werden. Damit das Gasnetz dafür geeignet ist, sind wir Teil des Projektes H2Ready. Ziel ist es, unsere Netze so schnell wie möglich für Wasserstoff fit zu machen. Daher ist jedes Bauteil, welches wir jetzt in unser Netz einbauen, wasserstofftauglich.

Verbraucht der durchschnittliche Privathaushalt im Kreis Ludwigsburg mehr oder weniger als der Bundesdurchschnitt?

Ich vermute wir liegen wir im Durchschnitt. Da dies vom Wohnungs- und Haustyp, vom Alter der Gebäude und vielen weiteren Faktoren abhängig ist, kann ich dazu keine genaue Aussage treffen.

Ein weiteres großes Thema der Bundesnetzagentur: Falls tatsächlich ein Gasnotstand eintreten sollte, wer hätte für die Stadtwerke Priorität – die privaten Haushalte oder die Unternehmen?

Das Energiewirtschaftsgesetz sieht klar vor, dass die privaten Haushalte vorrangig versorgt werden. Zudem haben wir bereits 77 Unternehmen identifiziert, die wir im ersten Schritt vom Netz nehmen müssten. Das Energiewirtschaftsgesetz besagt, dass ab einer bestimmten Größenordnung die Kunden nicht mehr geschützt sind. Aus diesen großen Kunden mussten wir nur noch die herausfiltern, die trotz Größe zu den geschützten Kunden zählen, weil sie zu den grundlegenden sozialen Diensten wie zum Beispiel Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen etc. gehören. 

Rechnen Sie mit Klagen, falls es tatsächlich zu Abschaltungen kommen sollte?

Es ist absolut nachvollziehbar, wenn möglicherweise betroffene Unternehmen versuchen, ihren Schaden ersetzt zu bekommen. Neben den Entschädigungsversuchen wird es sicher auch eine politische Diskussion und gewisse Regularien dazu geben, was in solch einem Fall passiert. Wir hoffen, dass dann möglichst unbürokratisch vorgegangen wird. Es ist weder im Interesse der Politik noch in unserem als Stadtwerk, dass womöglich Arbeitsplätze aufgrund dieser Gasmangellage gefährdet werden.

Wie lautet in der derzeitigen Situation Ihre persönliche Empfehlung an die Bürger?

Meine Empfehlung und gleichzeitig Bitte ist, sich wirklich solidarisch gegenüber der Gesellschaft zu zeigen, gegenüber den Nachbarn, der Familie, dem Umfeld und wann immer möglich, versuchen Energie zu sparen.
Das können Menschen mit großen Wohnflächen leichter bewerkstelligen als die, die auf engerem Raum leben. Es gibt viele Tipps, um Energie zu sparen und in Summe zeigen auch kleine Taten eine große Wirkung. Wichtig zu wissen ist es, dass 90 % des Energiebedarfes im Haushalt für die Heizung benötigt werden. Hier liegt also das größte Einsparpotenzial. Familien mit geringem Einkommen oder auf engem Wohnraum können natürlich weniger einsparen, zumal diese von den Preiserhöhungen auch härter betroffen sein werden. Dennoch sollte sich jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten solidarisch zeigen und versuchen sich einzubringen.

Herr Rager, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Was die Pandemie mit Kindern und Jugendlichen gemacht hat: Ein Interview mit Christian Hofberger

Christian Hofberger ist nicht nur Lehrer am Schickhardt-Gymnasium in Stuttgart, sondern auch offizieller Ausbilder vom Württembergischen Fußballverband (WfV) für angehende Trainer im Jugend- und Erwachsenenbereich. Der in Ditzingen lebende 49-Jährige erzählt im Interview mit Ludwigsburg24, wie sehr die Corona-Pandemie die Entwicklung und das Verhalten von Schülern und Fußballern in seinen Augen beeinträchtigte, was er ehrgeizigen Fußballer-Eltern rät und was ein erneuter Lockdown für Kinder und Jugendliche bedeuten würde.

Ein Interview von Ayhan Güneş

LB24: Wie kommt man dazu, in den Trainerlehrstab des WFV einzutreten?

Christian Hofberger: In diesen Trainerlehrstab wird man berufen. Voraussetzung ist die DFB Trainer A- Lizenz. Nachdem ich meine in der Tasche hatte, rieten mir ein paar ältere, erfahrene Trainer wie Lothar Mattner, Wolfgang Lamitschka oder mein damaliger Ausbilder an der Uni, Dirk Mack, mal eine Weile beim Trainerlehrstab reinzuschnuppern, da junge Leute gesucht wurden. Nach einer halbjährigen Hospitanz bei der ich mich hoffentlich nicht allzu unglücklich angestellt habe und aufgrund meiner schon längeren Trainertätigkeit im Amateurfußball wurde ich dann in den WFV Trainerlehrstab aufgenommen und bin nun um die 20 Jahre dabei.

Was sind Ihre konkreten Aufgaben dort?

Wir treffen uns mehrmals im Jahr, um neue Konzepte auszuarbeiten und zu erörtern, wo wir im „Forschungsbereich“ des Fußballs tätig werden können, welche neuen Entwicklungen sich ergeben haben, was man vom Profifußball auf den Amateurbereich oder den Jugendfußball runterbrechen kann. Dies fließt in unsere Dezentralen Fortbildungen ein, die zur Lizenzverlängerung dienen. Und natürlich kümmern wir uns vor allem um den Ausbildungsbereich. Es geht darum, wie wir möglichst viele Kinder- und engagierte Jugendtrainer erreichen, die Input wollen. Deshalb bin ich sowohl in Ruit, als auch dezentral in Basis-Lehrgängen tätig. Aktuell wird die Ausbildungsstruktur dahingehend verändert, dass es ab 2023 ein „Kindertrainerzertifikat“ geben wird und eine Ausbildung zum „DFB Basiscoach“.

Sie sind quasi Trainerlehrer. Vergleicht man die Zeit vor mit der nach Corona, was hat sich verändert?

Vor Corona hatten wir sehr viele Interessierte an den dezentralen Angeboten, da war ganz eindeutig ein Trend zu erkennen. Man kann nämlich nicht von jedem erwarten, dass er sich für den Erwerb einer C-Lizenz vier Wochen Urlaub nimmt, um den Schein in Ruit zu erwerben. Deshalb wollten wir versuchen vor allem die Basislehrgänge dezentral in den Bezirken und Vereinen anzubieten, damit man möglichst mit zwei Wochenenden schon den ersten Teil abdecken kann. Das kam sehr gut an. Während Corona mussten wir vorwiegend auf online umstellen, was aber nicht jeden Trainer ansprach. Wenn man vielleicht beruflich schon viel mit Videokonferenzen zu tun hat, will man nicht auch noch einen Trainerlehrgang online machen. Aber jetzt nach Corona ist es wieder besser und es boomt total. Wir haben wirklich eine große Nachfrage an Trainerausbildungen, so dass sehr viele Lehrgänge schon voll sind.

Woran liegt das?

Das liegt mit daran, dass viele Trainer ihre Ausbildung vor Corona begonnen haben und sie nun endlich beenden wollen. Aber es scheint auch so, dass viele „neue“ Trainer nach der langen Auszeit plötzlich Lust bekommen haben auf Fußball im Verein, mit Kindern, Fußball im Ehrenamt.

Hat sich bei den Trainertypen irgendetwas in den zwei Jahren der Pandemie verändert?

Eigentlich, von den Typen her, ist es in etwa gleichgeblieben. Es sind hauptsächlich Leute, die selbst mal gekickt haben und die jetzt eigene Kinder haben, die im Verein spielen. Das sind hauptsächlich Väter, die größtenteils in den Vereinen schon verwurzelt sind, werden dann oftmals von den Vereinsverantwortlichen angesprochen, ob sie nicht Lust hätten, eine Jugendmannschaft zu trainieren. Es handelt sich meist um sehr engagierte Leute, die Input suchen und dankbar sind, Wissen über neue Trainingsformen und deren Umsetzung für die jeweiligen Altersklassen zu erlernen. Immer mehr kommen aber auch schon junge, engagierte Mädels und Jungs in die Lehrgänge, die selbst aktiv spielen und oft noch zur Schule gehen oder studieren.

Sie bilden aber auch Trainer für den Erwachsenen-Fußball aus. Wie muss ein guter Trainer zu Kindern, wie zu Erwachsenen sein?

Trainer für Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind eigentlich drei ganz unterschiedliche Felder. Im Kinderbereich ist es ganz wichtig, dass die Kinder Spaß haben, dass sie sich bewegen und austoben können. Mit ihnen kann ich viele Dinge machen, um sie zu motivieren, die manchmal auch nur am Rande mit Fußball zu tun haben. Bei Kindern muss ich als Trainer außerdem unbedingt darauf achten, dass jeder sehr oft am Ball ist, jeder mal die Möglichkeit hat, ein Tor zu schießen. Allein deswegen gehen Kinder nämlich zum Fußball. Ich selbst habe damals bis zum Alter von zehn oder elf Jahren meist nur auf der Kickwiese gespielt, konnte von daher schon spielen und bin dann erst in den Verein, um zu trainieren. Heutzutage kommen die Kinder schon mit fünf, sechs Jahren in die Vereine und haben oftmals noch große motorische Defizite. Mit diesen Kindern kann ich natürlich nicht trainieren, sondern muss deren Freude am Spielen aufrechterhalten.

Was ist beim Jugendtraining wichtig?

Mit den Jugendlichen können wir schon ins spezifischere Training einsteigen, können vor allem technische und koordinative Fertigkeiten schulen und den Kids den Teamgedanken beibringen. Wobei wir – und das hat gerade Corona wieder gezeigt -darauf achten müssen, dass in der heutigen Zeit verdammt viel auf die jungen Menschen einprasselt. Zu meiner Zeit ging man in die Schule, machte fix die Hausaufgaben, um dann schnell auf dem Bolzplatz sein zu können. Heute hat man 10.000 Möglichkeiten, dazu kommt zwei-, dreimal Nachmittagsunterricht sowie andere Anforderungen. Darauf müssen wir eingehen und immer genau schauen, wo steht der Jugendliche gerade, was ist im Elternhaus los, wie sieht es jetzt gerade durch Corona in der Schule aus. Da haben wir Jugendtrainer eine ganz besondere Verantwortung, da die Kinder uns ab einem bestimmten Alter als Vorbilder sehen, mehr noch als die Eltern.

Sind die Erwachsenen somit am unkompliziertesten?

Da kommt es immer darauf an in welchem Bereich man trainiert. Aber wenn es da um Leistung geht, dann kann ich diese hier auch einfordern- im Training wie im Spiel. Wobei für mich im Amateurfußball in allen Ligen auch das gemeinsame Miteinander außerhalb des Fußballplatzes eine zentrale Rolle spielt.

Während der zweijährigen Coronazeit konnten die Kinder die meiste Zeit nicht zum Training kommen. Inwiefern hat diese erzwungene Pause die Kinder verändert?

Den Kindern fehlt auf jeden Fall etwas, vor allem denen, die in zwei Lockdowns waren. In der Schule haben wir jetzt viel mehr Verhaltensauffälligkeiten als früher. Wir beobachten ausgeprägtere Konzentrationsprobleme und wir stellen, trotzdem wir eine Eliteschule des Sports und Fußballs sind, eine Gewichtszunahme bei vielen Schülern fest. Außerdem ist ein unglaublicher Drang vorhanden, ständig am Handy zu hängen. Das sind alles Punkte, die aus den vergangenen zwei Jahren resultieren, und die bei den Kindern Spuren hinterlassen haben. Deshalb müssen wir genau schauen, wie wir da gegensteuern können. Wir machen gerade am Ende dieses Schuljahres mit allen Klassen Schullandheime.

Zahlen wir als Gesellschaft für die Lockdowns einen hohen Preis, bzw. waren die Lockdowns gerechtfertigt?

Dazu kann ich mir kein finales Urteil anmaßen. Wer den Preis für diese Zeit gezahlt hat ist allerdings klar: das sind die Kinder und Jugendlichen. Sie sind zurückgetreten aus Verantwortung gegenüber den älteren Generationen, die die Gefährdetsten waren und noch sind. Das sollten wir nicht so schnell wieder vergessen. Allerdings habe ich momentan den Eindruck, als wäre schon wieder alles beim Alten und als würde man von allen das gleiche Leistungsvermögen erwarten wie vor Corona. Aber diejenigen, die jetzt oder im nächsten Jahr Prüfungen machen, waren auch in zwei Lockdowns. Von daher denke ich, dass wir da noch sehr aufpassen und nachsichtig sein müssen. Zwei Jahre sind sehr lange bei sehr jungen Menschen, die gehen nicht so schnell an ihnen vorbei.

Wie fatal wäre es, sollte es aufgrund steigender Inzidenzen zu einem dritten Lockdown kommen?

Für die Schüler wäre es sehr fatal, deshalb sollten wir unbedingt schauen, dass wir die Schulen nach Möglichkeit offenhalten, selbst wenn wir den Preis dafür zahlen, dass sowohl die Schüler als auch die Lehrer konsequent Masken tragen und wir permanent testen müssen. Natürlich schränkt das den Schulalltag extrem ein, aber es ist allemal besser als wieder zu schließen und die Schüler vor den PC zu verbannen, wo wir uns nur online bei mehr oder weniger guten Verbindungen sehen. Schule lebt von Interaktion und von Austausch. Wenn ich meine Schüler direkt vor mir sehe, kann ich ihre Reaktionen auf das Gesagte besser einschätzen als bei 16 Schüler-Kacheln auf dem IPad. Den Schülern geht es nicht anders. Von daher sollten Schulschließungen unbedingt vermieden werden.

Zurück zum Fußball: Speziell im Jugendbereich gibt es häufig extrem ehrgeizige Eltern, die auch nicht selten ihre Kinder nötigen, Höchstleistungen zu erbringen. Sie pushen ihre Kinder, auch wenn diese selbst vielleicht gar nicht den Drang dazu haben. Was raten Sie solchen Eltern?

Fußball nimmt mittlerweile in der Gesellschaft einen Stellenwert ein, der exorbitant hoch und nicht gerechtfertigt ist. Wenn ein Kind sich für Fußball interessiert und auch selbst spielt, dann hat es logischerweise seine berühmten Vorbilder. Das war früher auch schon so. Aber der Preis, den Kinder oftmals dafür zahlen den übertriebenen Vorstellungen ihrer Eltern nachzueifern, ist verdammt hoch. Das kann man mit der Schulkarriere vergleichen: Schickt man ein Kind auf eine Schule, für die es eigentlich nicht geeignet ist, wird es in der Mehrzahl Misserfolge haben. Muss es trotzdem dort bleiben und weitermachen, tut man dem Kind keinen Gefallen damit. Eher das Gegenteil ist der Fall, da es durch die Misserfolge automatisch die Lust und das Selbstvertrauen verliert. Baut man beim Fußball spielen einen zu großen Druck auf und überfordert das Kind, wird es wird kaum Leistung erbringen können. Es wird frustriert, weil es nicht mehr um den Sport und die Freude am Kick mit Kumpels geht, sondern nur noch darum, die Wünsche der Eltern zu erfüllen. Eltern tragen da eine ganz große Verantwortung.

Wie erklären Sie sich das?

Das liegt vielleicht daran, dass die Träume und finanziellen Möglichkeiten im Fußball unendlich sind und man immer von einem herausragenden Beispiel ausgeht. Es wird aber nicht jeder wie ein Bellingham mit 17 Jahren schon ein Weltstar, selbst wenn Talent vorhanden ist. Und wenn, sind die Wege nach oben sehr individuell und daher sehr unterschiedlich und andere Faktoren wie z.B. Verletzungen spielen eine oft nicht kalkulierbare Rolle. Das Wichtigste bei allem ist der permanente Spaß am Fußball und den erhält man durch die nötigen Erfolgserlebnisse. Ebenfalls wichtig ist breite Ausbildung statt einer zu frühen Spezialisierung.

Bis wann sollte ein Spieler den Sprung ins richtige Team geschafft haben? Gibt es aus Ihrer Sicht dafür eine Deadline?

Das ist schwer zu generalisieren, Ich persönlich halte vor dem 13., 14. Lebensjahr nichts vom Scouting und davon, Kinder quer durch Deutschland zu schicken, die dann irgendwo bei Gastfamilien leben. Ich finde es im jungen Alter besser, das Kind in seinem gewohnten Umfeld zu lassen. In Deutschland gibt es mit der U15 die erste Juniorennationalmannschaft, dafür schaut man natürlich nach den größten Talenten. Dann gibt es unterschiedliche Konzepte mit den Nachwuchsleistungszentren, die mit Sicherheit sinnvoll sind. Ich denke aber auch, dass ein regionaler Ansatz einfach mehr Sinn macht. Warum muss ein Spieler von Stuttgart nach Berlin wechseln, wenn er hier im Nachwuchsleistungszentrum unterkommen könnte. Dazu spielen so viele andere Faktoren eine Rolle wie Persönlichkeitsentwicklung, die schulische Entwicklung und wieder mögliche Verletzungen. Den goldenen Weg gibt es nicht, wenngleich es wichtig ist, dass man ab einem bestimmten Zeitpunkt gefordert und gefördert wird und im Training mit gleich starken Mannschaftskollegen spielt, man einen Trainer hat, der einen besser macht und man vor allem auch besser werden will. All das sind entscheidende Punkte. Und das alles spricht dann für die rund 200 bis 300 Toptalente in Deutschland, die es in die Bundesliga- Nachwuchsleistungszentren schaffen; und auch von denen schaffen es dann die wenigsten in die Bundesliga. Die große Masse des Fußballs sind aber Zehntausende. Nicht aus jedem kann ein Profi werden. Wer in seinem Heimatverein am Ende der Juniorenzeit in der zweiten Mannschaft kickt und dazu noch Betreuer macht, ist für seinen Verein genauso wichtig wie der Spieler, der in der 1. Mannschaft 18 Tore schießt. Fußball ist der beliebteste Sport in Deutschland und hat den größten Verband, in dem sich die meisten Menschen meist ehrenamtlich engagieren. Alle sollten sich dort zu Hause fühlen, wo sie einen Beitrag leisten können.

Sie haben die Trainer-A-Lizenz. Was bedeutet das in der Praxis?

Die Trainer-A-Lizenz gilt für den gesamten Amateurbereich. International gesehen ist es die UEFA-Pro-Licence, die höchste Lizenz in vielen europäischen Ländern. Bei uns berechtigt sie zu allem außerhalb des Profi-Fußballs. Als ich sie absolviert habe, war sie noch aufgesplittet in die beiden Teile Elite-Jugendlizenz und Erwachsenentraining, heute gehört alles zusammen. Ich habe damals meinen Schein für beide Bereiche gemacht. Von der Kreisliga A bis zur jetzigen Regionalliga habe ich alle Ligen mindestens ein Jahr trainiert. In der Amateurliga bin ich also gut durchgekommen, für den Profibereich bräuchte man jedoch den Fußball-Lehrer-Schein, dessen Erwerb für mich nicht mehr in Frage kommt.

Haben Sie nicht den Traum, einmal die Profis zu trainieren?

Natürlich hatte ich früher den Traum vom Profitrainer, doch die Zeit dafür ist (wahrscheinlich) vorbei. Die Bayern brauchen eh nicht bei mir anrufen, da ich 1860 Fan bin. Aber jeder andere Bundesligaverein dürfte sich gerne bei mir melden, wenn sie mich bräuchten. Doch das wird leider nicht passieren, weil wir jedes Jahr neue, gute DFB-Lehrer kriegen, die diese Posten besetzen. Ich habe damals entschieden, mich hauptsächlich auf den schulischen Bereich zu konzentrieren. Ich bin in erster Linie passionierter Lehrer, obwohl der Fußball als „schönste Nebensache der Welt“ in vielen Formen natürlich eine gewichtige Rolle in meinem Leben spielt. Glücklicherweise bin ich jetzt an einer Eliteschule des Fußballs, an der ich auch Sport als Hauptfach unterrichten darf.

Wie wurde Ihre Fußball-Leidenschaft ursprünglich geweckt? Liegt sie in der Familie?

Ja, mein Vater hat auch gekickt in der Kreisliga in Kochel am See und in Bichl in Oberbayern… da ging es ums Kicken und um das Bierchen danach – super! Ich habe heute noch genau vor Augen, als ich zum ersten Mal nach unserem Umzug ins „Ländle“ im Neckarstadion war beim Spiel VfB gegen den 1. FC Nürnberg, Anfang der Achtziger. Das war faszinierend. Und in meiner Freizeit war ich in jeder freien Minute mit den Kumpels auf dem Kickplatz. So ist alles entstanden. Im Verein habe ich in Hirschlanden in der E2 angefangen und spätestens ab da war Fußball fester Bestandteil meines Lebens. Meine Mutter und mein Vater haben mich in allem unterstützt und sich engagiert, manchmal natürlich zähneknirschend, wenn mal wieder ein Hallenturnier war und sie zehn Stunden dort verbringen mussten.

Sie leben in Ditzingen und haben sich im Landkreis Ludwigsburg sehr engagiert.

Als Trainer habe ich angefangen beim TSV Flacht im Jahre 1998, die sind damals abgestiegen in die Kreisliga A. Zu dieser Zeit habe ich noch bei Dirk Mack an der Uni Stuttgart Sport studiert und er ermunterte mich, nicht nur als Spieler, sondern gleichzeitig auch als Trainer in der Praxis erste Erfahrungen zu sammeln. Dann habe ich dort angefangen und wir sind sofort wieder in die Bezirksliga aufgestiegen und wurden in der nächsten Saison mit nur einem Punkt Rückstand Zweiter hinter 07 Ludwigsburg II. Damals gab es leider noch keine Relegation, deshalb war kein direkter Durchmarsch in die Landesliga möglich. Danach bin ich zum TSV Eltingen in die Landesliga gewechselt, dort hatte ich schon in der Jugend gespielt. Leider habe ich mir dort in der Vorbereitung direkt die Achillessehne gerissen, was ein großer Einschnitt in meine aktive Spielertrainerkarriere mit 28 Jahren war. Ich kam dann zwar auf den Platz zurück, aber war nie wieder so gut wie vor der Verletzung.

Für wen haben Sie danach noch gespielt?

Vier Spieltage vor Saisonende 2002 kam ich als „Feuerwehrmann“ nach Rutesheim in die Bezirksliga. Wir haben mit der Mannschaft den Abstieg damals abgewendet. Danach sind wir in die Landesliga aufgestiegen. Nach drei Jahren in Rutesheim bin ich für ein Jahr zum VFL Kirchheim, damals Oberliga und vierthöchste Spielklasse. Das schon interessant, wenn man dann Freitagabend gegen Waldhof Mannheim vor dreieinhalbtausend Zuschauern im Carl- Benz Stadion gespielt hat. Da war schon richtig was los. Nach einem weiteren Jahr in Gechingen bin ich erneut drei Jahre zurück nach Rutesheim. Danach war ich in der U21 der Sonnenhof Großaspach tätig. Die letzten Stationen waren im engeren Raum Ludwigsburg. Bei 07 war ich nur ein halbes Jahr, es war sehr chaotisch. Mein letztes Team war für eineinhalb Jahre bis kurz vor Corona der TV Pflugfelden.

Wer ist für Sie persönlich der beste Spieler?

Durch meine DFB-Referententätigkeit im Rahmen der „Fußballhelden- Bildungsreisen“ bin ich häufiger in Barcelona. Messi mal live zu sehen, war schon eine Offenbarung. Allein schon das Aufwärmen von Messi und Iniesta war sehenswert. Die haben sich volley die Bälle vom Sechzehner bis zur Mittellinie zugespielt, haben sich nebenher unterhalten. Der eine hat den Ball mit der Brust gestoppt, hat ihn volley zurückgespielt, dann hat der andere mit der Brust gestoppt und ebenfalls wieder volley zurückgespielt. Das ging über viele Minuten so, ohne dass der Ball einmal auf den Boden gefallen wäre. Die Selbstverständlichkeit hat mich total beeindruckt. Einmal durfte ich bei einem “Classico” dabei sein, dem Abschiedsspiel von Iniesta. Da hat Real mit Cristiano Ronaldo, Benzema, Ramos und Co. auf der anderen Seite gestanden, das war schon großer Sport. Seit Messi in Paris ist, hat er für mich jedoch massiv an Sympathie verloren. Momentan finde ich Kevin De Bruyne wahnsinnig gut, er hat unheimlichen Einfluss auf das Spiel von Man City. Aber ich wüsste derzeit keinen Spieler, der alle anderen so in den Schatten stellt, wie das Messi die letzten zehn Jahre getan hat.

Herr Hofberger, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Jan Michl im Interview mit Ludwigsburg24

Am 1. April übernahm Jan Michl die BMW-Niederlassung Rhein in Asperg und löste dort seinen Vorgänger Sven Seeg ab. Seit 2006 gehört er bereits dem Unternehmen an und arbeitete seither am Standort in Heilbronn als Niederlassungsleiter und BMW und MINI Brand-Manager der Unternehmensgruppe. Ludwigsburg24 sprach mit ihm unter anderem über die aktuelle Situation auf dem regionalen Automarkt.

Ein Interview von Patricia Leßnerkraus

Herr Michl, herzlich willkommen im Landkreis Ludwigsburg. Haben Sie sich mittlerweile eingelebt und wie gefällt es Ihnen?

Mir gefällt es gut, es passt alles. Hier treffe ich auf die gleichen Themen und Problematiken wie überall anders auch. Also ist das alles nichts Neues.

Um welche Problematiken handelt es sich konkret?

Die üblichen Personalthemen, Abwicklungsthemen, Parkplatzthemen.

Inwiefern haben Sie Personalprobleme? Mangelt es Ihnen an Personal?

Es ist leider immer sehr schwierig, qualifiziertes Personal zu bekommen. Ein weiterer Punkt ist, dass man kaum noch Auszubildende findet, vor allem für die Werkstatt. Wir würden sehr gerne mehr Azubis bei uns aufnehmen, aber es bieten sich kaum welche an.

Woran liegt das?

Woran es liegt, kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass der Zulauf der Azubis sehr bescheiden ist.

Wie bewerten Sie die Gesamtsituation der Niederlassung im Raum Ludwigsburg. Wo sind Sie Ihrer Meinung nach angesiedelt, welche Entwicklungsmöglichkeiten sehen Sie und wo könnten sich möglicherweise Hindernisse auftun?

Entwicklungsmöglichkeiten gibt es sicher noch viele, aber dafür braucht man eben das entsprechende Personal. Derzeit sind wir in den Bereichen Neuwagen, Gebrauchtwagen und Service auf einem guten Stand, aber selbstverständlich gibt es immer noch Luft nach oben, daran werden wir arbeiten.

Heißt das, dass sich BMW im Mutterland von Daimler und Porsche gut behaupten kann? Und woran liegt das Ihrer Ansicht nach?

Ja, im Vergleich zu vielen Kollegen anderer Marken sind wir gut aufgestellt. Das liegt sicherlich mit daran, dass BMW gute Produkte anbietet. Wir haben ein wunderschönes Modell-Portfolio sowohl bei den Verbrennern als auch im E-Bereich, das ergänzt wird durch unser sehr agiles Verkaufsteam. Am Ende des Tages steht oder fällt der Erfolg immer mit dem Personal. Und wir haben gutes Personal, auch wenn es wie schon gesagt ruhig noch ein paar Kollegen mehr sein könnten. Aber sie müssen halt auch passen. Wir versuchen natürlich, unsere Azubis entsprechend unseren Ansprüchen auszubilden, aber leider haben wir hier auch keine große Auswahl mehr.

Wer ist denn der klassische BMW-Fahrer?

Unsere Kunden liegen zwischen 18 und 80. Vielleicht kann man sagen, der klassische BMW-Kunde ist der Middle Ager, 30 bis 40 Jahre alt, mit einem gewissen Anspruch an gute Qualität, Sicherheit und ein sportliches Fahrgefühl. Aber letztendlich ist die Wahl des Autos immer eine Frage des Geschmacks und des Verhältnisses von Preis und Leistung. Bei uns wissen die Kunden, was sie für ihr Geld bekommen.

Corona hat die Autoindustrie extrem belastet. Deshalb ist es in dieser Zeit eine besondere Herausforderung, die Verantwortung für eine große Niederlassung zu übernehmen. Haben Sie lange überlegen müssen?

Nein, da habe ich nicht lange überlegen müssen, denn ich habe die gleiche Arbeit ja schon in Heilbronn gemacht. Für mich ist es egal, an welchem Standort ich arbeite. Wir haben die Coronakrise an allen Standorten gut gemeistert, waren bis auf ein einziges Mal für zwei Wochen nirgendwo in Kurzarbeit. Ich muss wirklich sagen, alle waren sehr agil und engagiert, die Ausnahmesituation entsprechend in den Griff zu kriegen und zu steuern. Das hat wirklich gut funktioniert.

Wie stark spüren Sie heute noch die Auswirkungen von Corona?

Diese Auswirkungen spüren wir tatsächlich noch immer. BMW hat Lieferschwierigkeiten und wir haben viele Umbestellungen. Dieser Zustand wird dieses Jahr mit Sicherheit noch anhalten. Wie sich das nächste Jahr entwickelt, müssen wir abwarten. Auf jeden Fall bleibt es spannend, aber das ist unser tägliches Brot.

Ist der Gebrauchtwagenmarkt ebenfalls noch stark von der Krise betroffen?

Momentan ist der Gebrauchtwagenmarkt einigermaßen stabil. Aber je nachdem wie sich der Zufluss von Neufahrzeugen entwickelt, wozu wir derzeit aber keine Informationen haben, bricht eventuell der Gebrauchtwarenmarkt ein. Aber noch haben wir einen guten Bestand.

Wie schaut es beim Sevicebereich und den Ersatzteilen aus?

Bis auf Stoßstangen und andere PVC-Teile ist im Ersatzteilbereich alles gut lieferbar, da haben wir sozusagen keinerlei Bremsspuren.

Spüren Sie den Ukraine-Krieg in Ihrem Geschäftsbereich?

Ja, das betrifft die ganzen neuen Fahrzeuge. Aus der Ukraine kommen doch die ganzen Kabelbäume, die uns jetzt aufgrund der verzögerten Lieferungen total ausbremsen im Neuwagenbereich. Dazu kommt dann noch die Halbleiterproblematik.

Sie sind verheiratet, haben zwei Kinder. Sind sie alle umgezogen oder ist die Familie in Heilbronn geblieben und Sie pendeln täglich?

Weder noch, denn ich wohne schon die ganzen Jahre mit der Familie in Backnang. Früher bin ich morgens rechts nach Heilbronn gefahren, jetzt fahre ich links nach Ludwigsburg. Für die Familie hat sich somit nichts geändert und für mich ist es quasi auch in etwa gleichgeblieben.

Gefällt Ihnen die Region Ludwigsburg oder bekommen Sie nur wenig mit von der Gegend?

Ich finde es sehr schön hier und als Backnanger komme ich als Privatmann für ein schönes Essen gelegentlich nach Ludwigsburg. Durch private sowie geschäftliche Kontakte bin ich mit der Region verwurzelt.

Wie attraktiv ist Ludwigsburg für Sie als Wirtschaftsstandort?

Der Landkreis ist als Wirtschaftsstandort sehr attraktiv. Man hat hier alles, was man braucht, es ist eine gute Kaufkraft vorhanden sowie eine gute Anbindung an die umliegenden Regionen und die direkte Nähe zu Stuttgart.

Herr Michl, wir danken Ihnen für das Gespräch!

„Die Politik hat an Vertrauen verloren“ – Im Gespräch mit Landrat Dietmar Allgaier

Als Dietmar Allgaier vor zwei Jahren als neuer Chef im Landratsamt antrat, war er voller Elan und sprühte vor Ideen für das neue Amt. Damals ahnte er jedoch noch nicht, dass ein unbekannter Virus nicht nur sein eigenes berufliches Wirken, sondern unser aller Leben massiv beeinflussen würde. Nach zwei Jahren Corona-Pandemie zieht der 56-jährige Kornwestheimer Bilanz und wagt einen vorsichtigen Ausblick in die Zukunft.

Ein Interview von Ayhan Güneş und Patricia Leßnerkraus

LUDWIGSBURG24: Herr Allgaier, inzwischen sind zwei Jahre seit Ihrem Amtsantritt vergangen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Dietmar Allgaier: Mir ist es so vorgekommen, als wäre die Zeit im Nu verflogen. Das liegt daran, dass im März 2020 plötzlich alles im Krisenmodus versank und das gewohnte politische Alltagsleben gar nicht mehr stattgefunden hat. Heute frage ich mich tatsächlich, wo die Zeit geblieben ist.

Sie haben die Amtsgeschäfte im Januar 2020 mit großer Lust und Freude aufgenommen. Was ist davon übriggeblieben?

Natürlich habe ich noch immer sehr viel Freude an dem Amt, zumal der Landkreis zukünftig nicht nur strategisch vor großen, durchaus positiven Herausforderungen steht. Aber ich gebe zu, dass meine ursprünglichen Vorstellungen von meiner Arbeit ganz andere waren. Die Position des Landrats lebt doch schließlich auch davon rauszugehen zu den Menschen, alle Städte und Gemeinden des Landkreises zu besuchen und kennenzulernen, ebenso alle wichtigen Institutionen aufzusuchen, bei Veranstaltungen präsent zu sein. Das alles hat sich wegen Corona gar nicht entwickeln können.

Sie sagten einmal, dass das Amt des Landrats auch deshalb gut zu Ihnen passt, weil Sie ein sehr kontaktfreudiger Mensch sind. Wie gleichen Sie diese durch Corona fehlenden sozialen Kontakte aus?

Natürlich fehlen mir die Kontakte zu den Menschen, aber da geht es mir nicht anders als vielen in unserer Gesellschaft. Das Aufeinandertreffen, die Gespräche, der Austausch bei einem gemütlichen Gläschen Wein, all das fehlt total. Aber ich möchte zugleich nicht verhehlen, dass ich gerade aufgrund dieses Mankos die Strukturen und Prozesse im Landratsamt viel schneller erfassen konnte. Dadurch, dass wir ab März 2020 quasi in den Krisenmodus verfallen sind und fast ausschließlich Krisenmanagement erforderlich war, habe ich natürlich die Mitarbeiter*innen im Haus an unterschiedlichsten Stellen viel schneller kennengelernt als das zu normalen Zeiten der Fall gewesen wäre.

Familiär war das auch nicht einfach. Meine Schwiegereltern und auch meine Mutter sind achtzig und älter. Bis zu den Impfungen war jeder persönliche Kontakt sehr schwierig, weshalb wir uns dann alle gemeinsam sonntagabends virtuell zusammengefunden haben, aber das ersetzt ja den richtigen Kontakt nicht.

Haben Sie während Corona etwas Positives für sich entdecken können?

Ja, das habe ich tatsächlich. Zu den Aufgaben eines Landrats, Oberbürgermeisters oder Bürgermeisters gehören viele Abend- sowie Wochenendtermine, die plötzlich alle entfallen waren. Gut, anfangs war ich wegen des Krisenmanagements viel und lange im Landratsamt, auch am Wochenende, da unser Gesundheitsamt sowie unser Bevölkerungs- und Katastrophenschutz sieben Tage die Woche ununterbrochen im Einsatz waren. Trotzdem blieb mir in den letzten zwei Jahren viel mehr Zeit mit meiner Familie, die wir intensiv und mit Spaziergängen oder Fahrradtouren verbracht haben.

Ihre ältere Tochter war 2020 als Au-pair in Amerika. Wie ging es Ihnen damit als Vater?

In mir war schon die große Sorge, dass ich nicht einfach zu ihr fliegen kann, um sie zu unterstützen oder zu helfen, falls irgendetwas sein sollte. Wir haben uns aber regelmäßig digital ausgetauscht. Sie blieb während der gesamten Pandemie dort und zum Glück ging alles gut. Inzwischen ist sie wieder zurück in Deutschland und studiert in Frankfurt.

Was haben Sie – außer den sozialen Kontakten – während der Pandemie am meisten schmerzlich vermisst?

Ich möchte dies gerne mit einer Gegenfrage beantworten, die mich beschäftigt: Werden wir wieder zurück zur alten Normalität kommen oder werden wir in eine neue Normalität gehen nach dem Ende der Pandemie?

Was wäre für Sie die neue Normalität?

Die Menschen haben sich während Corona ihre privaten Nischen gesucht und auch besetzt. Früher ist man gemeinsam zu Sport-Events, hat Kulturveranstaltungen oder Vereinsfeste besucht, ist ins Kino gegangen. Wir stellen jetzt fest, dass die Menschen noch immer ängstlich und zurückhaltend sind selbst bei den Möglichkeiten, die jetzt schon wieder gegeben sind. Viele haben sich ihr Leben neu ausgerichtet mit ihrem Zuhause, Garten, Terrasse oder Balkon und mit der Familie. Der Besuch einer Sportveranstaltung oder der Film im Kino wird kompensiert mit beispielsweise einem Sky-Abo. Der komplette Digitalbereich hat sich von heute auf morgen immens weiterentwickelt, deswegen glaube ich, dass vieles von all dem nach der Pandemie bleibt. Dazu gehören ebenso die Bereiche Homeoffice, Digital Learning, Video-Konferenzen, Zoom-Calls. Wobei ich immer noch ein Verfechter des persönlichen Austauschs bin bei bestimmten Thematiken. Aber manches kann man tatsächlich digital klären, was eine enorme Zeitersparnis in den Arbeitsabläufen bringt, ganz abgesehen von den Umweltbelastungen, die Autofahrten und Flüge für Vorort-Termine mit sich bringen.

Glauben Sie, dass die durch Corona entstandenen Umstrukturierungen in der Arbeitswelt ebenfalls zur neuen Normalität gehören werden?

Davon ist auszugehen und Homeoffice ist nur ein Teil davon. Viele Unternehmen haben bereits völlig neue Arbeitskonzepte entwickelt – von Desk-Sharing über Mehrfachbelegung von Arbeitsplätzen bis hin zur insgesamten Veränderung der Work-Life-Balance.

Werden Sie auch an den hier stattgefundenen Veränderungen festhalten?

Grundsätzlich ja, aber wir werden alles mit Maß übernehmen. Wenn es sich um Erstkontakte oder gar Vorstellungsgespräche handelt, werden wir mit Sicherheit wieder zum persönlichen Kontakt zurückkehren. Ich finde, sie sind nicht ersetzbar in digitaler Form. Man braucht dafür eine gewisse Atmosphäre und muss den Menschen kennenlernen. Auch schwierige Verhandlungen, wie beispielsweise in jüngster Zeit zum Thema Müll, führen sich einfach leichter, wenn man die betreffenden Gesprächspartner am Tisch hat und sich gegenseitig in die Augen schauen kann.

Hat sich durch Corona Ihr persönliches Wertesystem verschoben?

Mein persönliches Werteempfinden hat sich nicht wesentlich verschoben. Ich stelle eher mit einer gewissen Sorge fest, dass sich das Werteverständnis in unserer Gesellschaft insgesamt verschoben hat.

Inwiefern?

Ich sehe mit Sorgen die Entwicklung der Kleinsten durch die Pandemie, wenn man bedenkt, dass seit fast zwei Jahren Kinder entweder gar nicht oder nur digital beschult wurden und Kindergartengruppen geschlossen wurden mussten. Das alles nimmt schon Einfluss auf die Entwicklung. Ich fürchte auch, dass die Pandemie Vertrauen vor allem in die Politik verwirkt und mit zu einer gesellschaftlichen Spaltung geführt hat.

Bekommen Sie den Frust der Menschen zu spüren, die sich von der Politik nicht mehr mitgenommen fühlen oder gar nicht mehr erreicht werden?

Während Corona gab es auch viele kritische und auch unflätige Briefe, aber zum Glück waren sie nicht persönlich beleidigend. Es kamen aber ebenso viele sachliche Briefe von Menschen, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Wir haben versucht, diese Briefe immer zeitnah zu beantworten. Aber ich stimme zu, dass man die Menschen nicht mehr erreicht und stelle gleichzeitig mit Sorge fest, dass sie teils gar nicht mehr erreicht werden wollen. Bei den Themen, die sie persönlich berühren oder betreffen, klappt das noch, aber alle anderen Themen laufen ins Leere. Die Abonnements der Printmedien sind stark rückläufig, Kommunikation findet fast nur noch in den Sozialen Medien statt, wo oftmals die Grenze des gegenseitigen Respekts sehr niedrig ist. Eine Tastatur zu bedienen ist halt sehr viel leichter als dem Gegenüber etwas ins Gesicht zu sagen. Wir haben leider die Fürsorge, die wir früher füreinander hatten, verloren und das soziale Miteinander leidet.

Haben Sie Verständnis für Kolleg*innen in ähnlichen Positionen, die aufgrund des Hasses und der Wut aus der Bevölkerung von ihren Ämtern zurückgetreten sind?

Ich habe durchaus Verständnis für diese Kolleginnen und Kollegen, denn so etwas zehrt an einem, vor allem wenn auch der private Bereich und somit die Familie davon betroffen ist. Wir leben in einer Demokratie mit freier Meinungsäußerung, aber es gibt natürlich Grenzen. Der Staat muss da handeln, wo diese rote Linie überschritten wird. Das erwarte ich vom Staat und dafür brauchen wir keine verfassungsrechtliche Veränderung. Die verbalen Angriffe gingen jedoch nicht nur gegen politische Mandatsträger. Klinikpersonal wie Ärzte, Schwestern, Pfleger waren ebenso betroffen wie die Polizei oder Verantwortliche im Sport. Deshalb sollten wir daran arbeiten, das soziale Miteinander wieder stärker zu fördern und versuchen, die Menschen nach der Pandemie und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Spaltung wieder zusammen zu bringen.

Beschreiben Sie doch bitte in ein paar Sätzen den aktuellen Zustand des Landkreises Ludwigsburg.

Aus meiner Sicht ist der Landkreis in einer stabilen Verfassung. Die wirtschaftlichen Einbrüche bei unseren Unternehmen, aber auch im Allgemeinen und in den öffentlichen Haushalten sind nicht so stark eingetroffen wie ursprünglich von uns befürchtet, gleichwohl es selbstverständlich Bereiche gibt, die unter der Pandemie sehr stark gelitten haben. Mir liegt die Inflation weit mehr im Magen. Wir wissen noch nicht wie uns die langfristigen Folgen dieser Pandemie monetär treffen und wohin wir die nächsten zwei, drei Jahre steuern. Wir sind hier alles in allem gut durch die Pandemie gekommen, leider haben wir jedoch den Tod von 600 Menschen zu beklagen, was sehr, sehr traurig ist. Zum Glück hatten wir im Landkreis keine extremen Auswüchse der Inzidenzen nach oben zu beklagen und auch keine Überbelegung der Betten im Intensivbereich. Eine negative Begleiterscheinung war allerdings, dass wir teils Berufsbereiche bis zur Belastbarkeitsgrenze führen mussten, so dass ich jetzt fürchten muss, ob wir in diesen Jobs künftig noch ausreichend Personal haben.

Was denken Sie: Haben wir den schwierigsten Teil der Pandemie jetzt hinter uns?

Ja, ich glaube schon, dass wir den schwierigsten Teil jetzt hinter uns haben, gesetzt den Fall, es kommt nicht wieder eine neue Variante. Ich halte es deshalb für richtig, der Gesellschaft jetzt wieder eine Öffnungsperspektive zu entwickeln bzw. einzuleiten. Ich appelliere dennoch an die Menschen, sich auf jeden Fall impfen und auch boostern zu lassen, da es meistens die Ungeimpften sind, die auf der Intensivstation landen. Impfstoff ist ausreichend vorhanden und jeder kann auch ohne Termin einfach kommen.

Sind Sie für eine Impflicht?

Anfangs hatte ich mich tatsächlich für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen, weil ich davon überzeugt bin, dass die Impfung uns schützt. Ich halte sie nicht für eine Entscheidung eines jeden Einzelnen, sondern für eine Frage der Gesellschaft insgesamt, des Zusammenhalts und der Fürsorge denjenigen gegenüber, denen man begegnet. Doch hätte die Politik die Impfpflicht im Dezember 2021 entscheiden müssen. Jetzt ist sie den Menschen nicht mehr vermittelbar.

Sie haben eben die Politik angesprochen, die die Menschen nicht mehr erreicht. Welchen konkreten Vorwurf machen Sie den Politikern?

Meinem Gefühl nach ist das Vertrauen in die Kommunalpolitiker noch immer gegeben, weil man vor Ort eine direkte Form der Kommunikation mit den Bürgern führt. Doch in Berlin lief einiges schief. Die Bundespolitik war rückblickend betrachtet am überzeugendsten und klarsten zu Beginn der Pandemie, weil damals Entscheidungen stattgefunden haben. Später dann, als die Pandemie Gegenstand politischer, wissenschaftlicher und medizinischer Diskussion war, da entstand die Verunsicherung bei den Menschen, weil die Klarheit weg war. Ich bin immer für einen Diskussionsprozess, aber in einer Krise bedarf es Entscheidungen und nicht endloser Diskussionen.

Wen meinen Sie konkret, die Regierung in Berlin, die Länderchefs?

Wir haben ein föderales System, was grundsätzlich ein großes Gut in unserer Verfassung ist. Aber tatsächlich geht meine Kritik schon in Richtung Länderchefs, denn am Ende ist es so, dass zwischen Bund und Ländern in einer solchen Situation Klarheit für die Menschen bestehen muss. Wenn am Dienstag die Bund-Länder-Konferenz etwas verabschiedet und donnerstags zum Beispiel der bayerische Ministerpräsident erklärt, dass er seinen eigenen Weg geht, dann ist das nicht vertrauensbildend. Auch bei uns in Baden-Württemberg gibt es einige Kritikpunkte wie beispielsweise die schlechte Abstimmung zwischen Sozialministerium und den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Fragen der Aufgabenzuordnung, der Aufgabenteilung und der Übernahme von Verantwortung, das ist aus meiner Sicht nicht gut gelaufen.

Ein anderes Thema, das die Gemüter gerade erhitzt, betrifft die aktuelle Problematik der Müllabholung. Sind die Menschen zurecht wütend?

Ja, die Bürger sind zurecht enttäuscht, doch kennen sie leider die Verantwortlichkeit nicht. Weder die AVL noch der Landkreis organisieren den Müll, die AVL unterhält lediglich die Werkstoffhöfe und wickelt das Administrative ab. Für die Abholung und die Beseitigung des Mülls werden schon seit sehr vielen Jahren durch eine europaweite Ausschreibung Entsorgungsunternehmen beauftragt. Den Auftrag erhält der wirtschaftlichste Anbieter, der alle Kriterien erfüllt. Bei uns hat den das hochprofessionelle Unternehmen ALBA bekommen, es ist europaweit unterwegs und in Deutschland der Marktführer. Bereits vergangenen August hatte die AVL dem Unternehmen alle erforderlichen Daten und Informationen zur Verfügung gestellt. ALBA wusste also rechtzeitig, welche Touren an welchen Tagen gefahren werden müssen. Dass es dennoch beim Wechsel zu so einem erfahrenen Entsorger dermaßen große Probleme geben würde, konnte niemand erahnen. Das ist die eine Seite.

Und die andere Seite?

Das rein privatrechtlich organisierte Duale System ist hochkomplex, viele Menschen wissen darüber wenig Bescheid. Dieses System hat mit den Abfallgebühren nichts zu tun – weder die gelbe Tonne, noch der Glasmüll. Wir gehören zu einem von sehr wenigen Landkreisen in Deutschland, in denen der Glasmüll noch von Zuhause abgeholt wird. In allen anderen müssen die Bürger ihren Glasmüll zu Glascontainern bringen. Das wollten die Dualen Systeme auch bei uns erreichen. Das wäre durchaus umweltgerechter, weil an den Sammelplätzen der Glasmüll direkt nach Glasfarbe getrennt wird. Im Sinne unserer Bürger*innen konnten wir aber erreichen, dass wir auch die kommenden Jahre das Glas-Abholsystem beibehalten. Und dann ging es um die Entscheidung des Gefäßes – entweder die 120 Literbox für bestimmte Haushalte, was eine fünfte Tonne bedeutet hätte, oder aber die Box mit der Möglichkeit des Tausches. Wir haben uns dann bewusst für die Box entschieden, weil wir ein sehr dicht besiedelter Landkreis sind mit vielen Zwei- bis Dreifamilienhäusern in engen Straßen, so dass die Boxen ausreichen und keine fünfte Tonne benötigt wird. Abgemacht war außerdem, dass diejenigen, denen die Box dann doch nicht reicht, gegen eine Tonne tauschen dürfen. Daran wollte sich das Duale System nicht mehr erinnern und deshalb ist daraus ein Streit entstanden.

Wie wird das Müllproblem jetzt gelöst?

Wir haben gegen ALBA bereits eine hohe, sechsstellige Vertragsstrafe verhängt für das angerichtete Chaos. Alba hat sich aber sehr bemüht, die Probleme in den Griff zu kriegen. Sie sind zusätzliche Schichten gefahren, sie sind den ganzen Januar über samstags bis 21.00 Uhr gefahren, selbst am 6. Januar, und sie haben zusätzlich noch Fahrzeuge aus dem ganzen Bundesgebiet eingesetzt. Seither hat es sich deutlich verbessert und wird sich zeitnah gut einpendeln. Dem Dualen System haben wir jetzt einen Kompromiss vorgeschlagen, dem wohl alle Beteiligten zustimmen werden, um einen Prozess zu vermeiden.

Um die ganze Stimmung zu beruhigen, werden wir die Müll-Gebührenbescheide auch erst mit zweimonatiger Verspätung verschicken. Das gehört für mich zu dem Thema Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Fingerspitzengefühl in die Politik. Niemand muss Angst haben, dass er zu viel zahlen muss. Es wird nur für die Leerungen bezahlt, die tatsächlich stattgefunden haben. Das können wir garantieren, da jede Tonne, die ausgeleert wird, durch einen Chip registriert wird. Dadurch ist jede Leerung nachprüfbar und der Gebührenbescheid korrekt. Wir werden aber jedem Gebührenbescheid ein Merkblatt beifügen, dass den Bürgern die Müllgebühren transparent macht und nochmal erklärt, dass für Glas und gelbe Tonne keinerlei Gebühren anfallen, sondern diese bereits an der Kasse im Super- oder Getränkemarkt durch den Kaufpreis erledigt sind.

Welche Themen werden von Ihnen in Angriff genommen, wenn die Pandemie vorbei ist oder sich zumindest beruhigt hat?

Ich möchte den Landkreis strategisch neu ausrichten. Dazu gehört, wie wir mit dem Wohnungsmangel hier umgehen. Das betrifft den bezahlbaren Wohnraum sowie die Überlegung, wie wir junge Familien in die Region bekommen, die wir auch als Fachkräfte für unsere Arbeitswelt benötigen. Für sie müssen wir die nötigen Infrastrukturen schaffen wie u.a. Kindergarten, Schule, gute Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel. Die Bedürfnisse der Wirtschaftsunternehmen spielen da natürlich auch mit rein, gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass wir unsere Landschaftsschutzgebiete erhalten. Diese spannende Frage müssen wir in den nächsten Jahren lösen.

Dann möchte ich das Thema Stadtbahn weiter vorantreiben, was momentan ganz gut aussieht.

Eine große Herausforderung wird die Finanzierung des öffentlichen Personen-Nahverkehrs. Wir stecken heute schon über 50 Mio. Euro jährlich in den ÖPNV hinein. Und das muss ja irgendwie finanziert werden. Das Land möchte mehr 365 Euro-Tickets für Schüler und Jugendliche, die Taktungen sollen enger werden, die Mobilitätsgarantie soll gewährleistet sein. Das wird eine große Aufgabe.

Und eine weitere große Herausforderung wird die Veränderung der Kliniken-Landschaft, die unter unserer Trägerschaft ist. Wir müssen die bauliche Infrastruktur deutlich optimieren, wir müssen mit dem Pflegekräftemangel umgehen, wir müssen auf die neuen Herausforderungen in der Medizin reagieren und wir werden künftig viel mehr ambulante Behandlungen haben statt stationärer Aufnahmen. Wir brauchen eine Zentralversorgung, aber auch mehr spezielle medizinische Angebote, weil die Menschen sich je nach Erkrankung immer mehr an fachlichen medizinischen Leistungen orientieren.

Beim Thema Umwelt- und Klimaschutz sind wir schon seit 2015 auf einem guten Weg und mit vielen Projekten am Start wie zum Beispiel Energiesparmodelle an Schulen, Klima-Scouts für Azubis, mehr E-Ladesäulen in den Parkgaragen.

Worauf freuen Sie sich privat als nächsten Schritt?

Da steht ganz groß ein Familienurlaub mit Frau und Töchtern auf dem Plan. Wahrscheinlich geht es im August nach Italien oder auf eine griechische Insel. Darauf freue ich mich sehr.

Herr Allgaier, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Rund 200.000 Bäume für die Umwelt jedes Jahr – Ein Interview mit Spediteur René Große-Vehne

Rund 1.100 eigene, tonnenschwere LKWs des Kornwestheimer Familienunternehmens GV Trucknet (Große-Vehne) rollen unter verschiedenen Firmennamen durch Deutschland und Europa. Ihr Auftrag: Die Ware von namhaften Kunden aus den Bereichen Automotive, Systemverkehre, Papier, Textil und Lebensmittel sicher zum Verbraucher zu bringen.

 „Neben dem großen Fuhrpark und rund 90.000 m² Lager- und Umschlagsflächen sorgen unsere rund 2.500 Mitarbeiter – davon die meisten auf dem LKW, die anderen an unseren acht Standorten – für einen reibungslosen Ablauf“, berichtet Geschäftsführer René Große-Vehne im Gespräch mit LUDWIGSBURG24. Auch gewährt der 47-jährige Betriebswirt Einblicke in seine Firmenphilosophie, spricht über seine unternehmerische Verantwortung für die Gesellschaft und gibt einen Ausblick in die Zukunft.

Ein Interview von Patricia Leßnerkraus und Ayhan Güneş

Ludwigsburg24: Herr Große-Vehne, weder Sie selbst noch Ihr Name klingen schwäbisch…

GV: Richtig, ursprünglich komme ich aus Westfalen. Dort hatte mein Opa den Betrieb gegründet, den mein Onkel übernahm und den heute der Mann meiner Cousine leitet. Mein Vater ist Schlosser und Ingenieur geworden, ist zur DEKRA gegangen und deshalb sind wir hier in den Stuttgarter Raum gekommen.

Gehören Sie denn mit der Spedition Große-Vehne im Münsterland zusammen?

Nein, die Unternehmen sind absolut eigenständig und in ganz anderen Branchen tätig. Wir fahren zum Beispiel im Automobil-, im Textil-, im Getränke- und auch im Paket-, Express- und Kurier-Bereich, also für Hermes, DHL, GLS, DPD oder UPS die lange Strecke. Wir sind aber immer noch freundschaftlich, verwandtschaftlich verbunden, haben ein gutes Verhältnis, treffen uns regelmäßig und feiern gerne auch miteinander Feste.

Wenn Ihr Vater bei der DEKRA war, wie kommt es dann zu Ihrer Spedition, die es ja bereits ebenfalls schon seit 1974 gibt?

1974 kauften meine Eltern ihren ersten LKW, der bei meinem Onkel mitgefahren ist. 1991 haben sie sich dann dazu entschieden, Große-Vehne in Stuttgart zu gründen. Ein externer Geschäftsführer hat sich zusammen mit meiner Mutter um die Spedition gekümmert, mein Vater hat die beiden unterstützt.

Wann sind Sie dazu gestoßen?

Schon als Schüler und später als Student habe ich in den Semesterferien mitgearbeitet in allen Bereichen, habe vom Büro übers Lager alles gemacht. Meinen Eltern war es wichtig, dass ich alles lerne. Manchmal habe ich nachts um halb vier angefangen und einen LKW mit Reifen ausgeladen, bin dann um halb sieben ins Büro und habe bis abends dort disponiert. Ich bin sogar LKW gefahren, allerdings nur im Nahverkehr. Dafür wurde ich zwar gut entlohnt, aber es war schon eine anstrengende Zeit.

Fest ins Unternehmen eingestiegen bin ich 2005 im Alter von 30 Jahren. Damals habe ich nach meinem Betriebswirtschaftsstudium in Münster bei der Firma „hsv Systemverkehre“ angefangen, die auch zu GV Trucknet gehört. 2007/2008 bin ich als Geschäftsführer an den Stammsitz hier gekommen und in meine Gesamtführungsaufgaben mit Unterstützung meines Vaters hineingewachsen.

Sie haben tatsächlich den LKW-Führerschein?

Als das Unternehmen 1991 gegründet wurde, durfte ich zwar noch nicht fahren, aber einer unserer ersten Mitarbeiter sagte irgendwann: „Ich stelle dir die LKWs zum Waschen nicht mehr hin, du holst sie dir selbst.“ Ab da durfte ich als Sechzehnjähriger auf dem Hof die LKWs fahren. Der Mitarbeiter hat mir alles Nötige beigebracht, zum Beispiel wie man die Lafette unter eine Wechselbrücke setzt. Vor kurzem habe ich es noch einmal probiert, doch ich kann es leider nicht mehr – mir fehlt einfach die Übung.

Hat es Ihnen Spaß gemacht, mit dem LKW zu fahren?

Ja, klar, ich habe generell Freude an Fahrzeugen. Mir gefällt das Geräusch eines LKWs, ich mag auch das Geräusch eines Dieselmotors.

Sie sprachen eben davon, dass Sie für den Paketbereich fahren. Sind Sie verantwortlich für die Same-Day-Lieferungen, wie sie beispielsweise Amazon verspricht?

Nein, damit haben wir gar nichts zu tun, das regelt Amazon selbst. Ob diese prompte Lieferung generell für alle Anbieter Einzug bei uns hält, entscheiden allein die Verbraucher. Wenn Sie mich persönlich fragen, sage ich Ihnen klar: Ich brauche meine Bestellung nicht schon am selben Tag.

Sollte die Gesellschaft das aber so wünschen, werden auch wir selbstverständlich überlegen, wie wir diesen Wunsch erfüllen können. Wir versuchen immer, die Anforderungen und Bedürfnisse unserer Kunden mitzugestalten, damit wir als Unternehmen mit in die Zukunft gehen. Deshalb beschäftigen wir uns im Automobilbereich beispielsweise intensiv mit Themen wie Batterie-Transport und Lagerung.

Ein Grundsatz Ihres Unternehmens lautet: „GV GOES ZERO“. Jetzt reden wir von einer Spedition, die Ware von A nach B bringt. Deswegen ist es eher ungewöhnlich für ein Unternehmen, dass es sich so etwas auf die Fahne schreibt.

Mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen wir uns schon lange. Bereits 2009 haben wir Gespräche mit dem „Zentrum für nachhaltige Unternehmensführung“ (ZNU) an der Universität Witten-Herdecke aufgenommen und eine intensive Zusammenarbeit als Partner des Instituts begonnen. Darauf basierend entstand 2017 die Initiative „ZNU GOES ZERO“.

Das gesetzte Ziel: bis 2023 müssen alle Mitgliedsunternehmen der ZNU CO2-neutral sein. Der Grundsatz dabei ist: so viele Emissionen wie möglich zu vermeiden, was nicht zu vermeiden ist, wird bestmöglich reduziert. Alles, was nicht vermieden oder reduziert werden kann, wird kompensiert. 2018 haben wir gemeinsam mit einigen anderen Unternehmen wie beispielsweise der Brauerei Bitburger oder dem Stuttgarter Gemüsering entschieden: Wir machen das, und zwar sofort.

Unser Unternehmen braucht kein Marketing-Budget, deshalb haben wir mit allen Geschäftsführern gemeinsam und einstimmig entschieden, das Geld, das andere in Werbebudgets stecken, in Bäumen anzulegen und lassen über „Plant for the Planet“ in Mexiko, genauer gesagt auf der Halbinsel Yucatan, Bäume anpflanzen.

Warum pflanzen Sie die Bäume gerade in Mexiko und nicht in Deutschland und über wie viele Bäume reden wir?

Jährlich werden von unserem Beitrag rund 200.000 Bäume gepflanzt. Würden wir die Bäume in Deutschland pflanzen, würde es uns schätzungsweise das Zehnfache kosten. Außerdem ist der Regenwald in Mexiko die Lunge der Welt.

Die Bewaldung können wir über Satelliten genau verfolgen. Hinter „Plant for the Planet“ steht Felix Finkbeiner, ein beeindruckender junger Mann, der die Initiative schon im Alter von gerade einmal neun Jahren ins Leben gerufen hat.

Waren Sie selbst schon mal dort und haben Ihre Bäume begutachtet?

Ich hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, aber dann kam Corona dazwischen. Ich hoffe, das sich bald ein Besuch realisieren lässt.

Erwarten Kunden heutzutage Nachhaltigkeit von einem Unternehmen?

Als wir unseren CO2-Fußabdruck 2018 auf null gesetzt haben, hat es, gelinde gesagt, niemanden interessiert. 2020/21 hat das Ganze dann Fahrt aufgenommen. Wir werden unsere Nachhaltigkeit jetzt auch offiziell zertifizieren lassen.

Wir versuchen immer einen Schritt vorauszudenken. Mit dem Thema Nachhaltigkeit haben wir jetzt dreizehn Jahre Erfahrung gesammelt. Seit drei Jahren gibt es ein festes Nachhaltigkeitsteam im Unternehmen – sukzessive verankern wir das Thema Nachhaltigkeit tiefer und breiter im Unternehmen.

Irgendwann wird der Kunde die Nachhaltigkeit bei Dienstleistern und Partnern voraussetzen. Wir müssen an die Generationen nach uns denken, an die wir unsere Welt übergeben. Wir beschäftigen uns intensiv mit der Forschung nach unweltfreundlicheren Alternativen. Durch Versuche mit alternativen Antrieben sammeln wir wichtige Erfahrungen. Zum Beispiel bringen wir mit dem Reallabor Hylix-B, unterstützt vom Landesumweltministerium, im März 2022 einen Wasserstoff-LKW auf die Straße.

Meine Devise und Motivation, auch für die nächste Generation, lautet: Nicht andere machen lassen, sondern selbst anpacken und sich weiterentwickeln. Das funktioniert aber nur, wenn alle Mitarbeiter im Unternehmen auch davon überzeugt sind und mitziehen.

Vor zwei Jahren hat Corona die Welt verändert. Inwiefern hat die Pandemie auch Ihr Unternehmen beeinflusst. Sind Sie ein Gewinner oder Verlierer der Krise?

Für ein Logistikunternehmen kommt es darauf an, wie es dem Kunden geht, allein davon sind wir abhängig. Nehmen wir den Textilbereich, da fahren wir für den Einzelhandel. Der stationäre Handel hatte während des Lockdowns geschlossen. Das führt dazu, dass die LKWs genauso stehen.

Gleiches galt für die Werke der Automobilbranche, die ebenso stillstanden. Die Halbleiterkrise hat auch ihren Teil beigetragen. Es war eine Situation, die uns nicht zu den Gewinnern der Krise macht, aber auch nicht zu den Verlierern.

Gibt es andere Sorgen, die Sie umtreiben?

Der Logistikbranche fehlt Nachwuchs, weshalb wir verstärkt ausbilden. Hier am Standort Kornwestheim haben wir 80 Auszubildende, davon werden fast 60 als Fahrer ausgebildet, der Rest verteilt sich auf die Bereiche Büro, Werkstatt und Lager. Im vergangenen Jahr kam noch der IT-Bereich dazu.

Es mag altmodisch klingen, doch ich finde es spricht nichts gegen die Einstellung „von der Lehre bis zur Rente“. Entwickeln können wir uns nur mit Menschen, die sich dem Unternehmen verbunden fühlen. Nehmen wir nur die älteren Fahrer, die mich schon lange kennen und die, wenn ich keine Telefonate habe, in mein Zimmer kommen, um spontan einen Kaffee mit mir zu trinken. Aber auch junge Mitarbeiter finden bei uns immer ein offenes Ohr. Reden ist wichtig, so kann man auch über Probleme sprechen, sie gemeinsam angehen und lösen bevor es zu Konflikten kommt.

Sie sind also ein Chef zum Anfassen…

Wir sind ein Unternehmen mit flachen Hierarchien. Ich selbst komme mit Freude zur Arbeit, das wünsche ich mir ebenso für die Mitarbeiter. Egal in welcher Branche – wenn einem Menschen dauerhaft bei der Arbeit die Freude fehlt, dann sollte er lieber seinen Job wechseln.

In Deutschland fehlen 60.000 bis 80.000 Berufskraftfahrer. Wozu das führen kann, hat man kürzlich in England gesehen. Wie finden Sie neue Fahrer?

Vieles läuft über Mund-zu-Mund-Propaganda. Auch unser Ausbildungsleiter, Alexander Koch macht mit seinem Team einen großartigen Job. Sie kümmern sich um die Menschen. Es ist wichtig, dass man jedem Mitarbeiter vermittelt: „Du bist ein ganz wichtiger Bestandteil des Unternehmens und der Gesellschaft.“

Ich würde mir wünschen, dass gerade auch die Fahrer von der Öffentlichkeit mehr Wertschätzung erfahren. Da ich das aber nicht von der Gesellschaft erwarten kann, muss ich selbst damit anfangen. Deshalb erkläre ich schon jedem neuen Lehrling, dass ohne ihn kein Daimler vom Band geht oder kein Paket Stuttgart verlässt. Das vermittelt allen Mitarbeitern Stolz und das Selbstvertrauen, dass sie einen wertvollen sowie zukunftsorientierten Job haben.

Gibt es sonst noch irgendwelche Besonderheiten für das Personal?

Wir versuchen unsere Wertschätzung zudem durch kleine Geschenke zu Weihnachten, durch schöne Feste im Sommer und zu Weihnachten oder durch andere kleine Gesten auszudrücken.

Dinge, wie ein einfaches Danke, echtes und ehrliches Interesse am Menschen, gegenseitiger Respekt, Ehrlichkeit, Offenheit und Fairness – das ist viel wert. Und ich bin sehr stolz, dass uns diese Werte als Familienunternehmen prägen und wir sie jeden Tag versuchen zu leben.

Könnte hier das Gleiche passieren wie in England, dass plötzlich nichts mehr geht, weil die Fahrer fehlen?

Natürlich, ist auch hier nicht von der Hand zu weisen, dass das kurz- bis mittelfristig ebenfalls droht. Wenn die Engländer ihre Tore länger als vier Monate aufgemacht hätten, dann wäre ich sehr gespannt gewesen, was hier passiert. Wir sind doch ebenso wie die Engländer neben den heimischen Mitarbeitern auch vom osteuropäischen Mitarbeiter-Markt abhängig.

Dadurch, dass England sich abgegrenzt hat, sind viele polnischen Fahrer wieder nach Deutschland zurückgekommen. Hätte England allerdings wieder aufgemacht und die prognostizierten Löhne bezahlt, dann wären wahrscheinlich auf einen Schlag 20.000 bis 30.000 Fahrer von hier weggegangen. Stellen Sie sich das mal vor mitten im Weihnachtsgeschäft.

Dazu kommt die Altersstruktur der Fahrer. Wenn nicht genügend Nachwuchs heranwächst, dann erhöht sich die Zahl der bis zu 80.000 fehlenden Fahrer jährlich um etwa 15.000.

Aber wo genau liegt das Problem, dass keiner mehr diesen Beruf ausüben will? Liegt es an der Bezahlung?

Die Bezahlung ist eigentlich besser als viele denken und entwickelt sich stetig. Dennoch verlieren wir Mitarbeiter vor allem an die große Industrie wie Daimler, Porsche, Bosch. Aber das ist nicht nur in unserer Branche so, beispielsweise das Handwerk ist genauso betroffen.

Dazu kommt, dass die Bundeswehr nicht mehr ausbildet. Von dort kamen früher extrem viele Mitarbeiter in die Unternehmen. Nachdem das weggefallen ist, bildet kaum jemand mehr aus. Die großen Logistik-Unternehmen wie DHL oder Schenker haben keine eigenen LKWs, sondern arbeiten mit kleineren Unternehmern. Diese bilden ebenfalls nicht aus, weil sie fürchten, dass sie das Geld in die Ausbildung investieren und der Fahrer danach zu einem anderen Arbeitgeber wechselt.

Die Struktur stimmt einfach nicht, deshalb müssen wir uns selbst dem Problem annehmen. Während der Flüchtlingskrise haben wir zum Beispiel eng mit Flüchtlingsheimen zusammengearbeitet.

Inwiefern?

Flüchtlinge durften hier bis zu sechs Wochen im Betrieb probearbeiten. Das war von der Ausländerbehörde genehmigt und wurde vom Arbeitsamt finanziert. Ausgenommen war der Bereich der Berufskraftfahrer, weil sich Flüchtlinge nicht über die Landesgrenzen hinausbewegen dürfen.

Nach Ablauf der sechs Wochen mussten alle Beteiligten entscheiden, ob es gemeinsam in die Zukunft geht. Waren sich beide Seiten einig, wurden die Betreffenden anschließend fest angestellt. Dadurch haben wir ganz viele tolle Mitarbeiter für unser Unternehmen gewonnen.

Spielt bei der Nachwuchsproblematik eventuell auch das Thema autonomes Fahren eine Rolle?

Natürlich ist das ein Thema, denn es wird irgendwann kommen. Aber das heißt nicht, dass niemand mehr auf dem LKW sitzen wird. Der Fahrer bleibt wichtig, da es immer jemanden geben muss, der sich um die Be- und Entladung sowie die Ladungssicherung kümmert.

In Städten oder auf Baustellen wird sich das autonome Fahren nach heutigem Stand so schnell ebenfalls nicht umsetzen lassen. Das klappt auf längeren Strecken, aber schon bei einer Ausfahrt fängt es an schwierig zu werden.

Sicherheit im Straßenverkehr ist ein Thema, für das Sie sich stark machen. Vor ein paar Wochen haben Sie mit der Landesverkehrswacht ein neues Projekt ins Leben gerufen…

Verkehr ist ein Miteinander und der LKW wird oftmals als Feindbild wahrgenommen. Deshalb haben wir in Kooperation mit der Landesverkehrswacht einige Trailerheckportale mit Grafiken beklebt, die wichtige Themen ansprechen, die zu mehr Verkehrssicherheit beitragen.

Auf Trailern, die vorwiegend auf der Autobahn fahren, machen wir auf das Bilden einer Rettungsgasse aufmerksam. Denn wenn ein Unfall passiert, muss es für die Rettungskräfte schnell gehen. Bei den Trailern, die eher im städtischen Raum unterwegs sind, geht es um den Sicherheitsabstand zu Radfahrern. Hier wollen wir das Bewusstsein schärfen, für mehr Verständnis füreinander werben und den Verkehrsteilnehmern ein wenig die Angst nehmen vor dem vermeintlichen Ungeheuer LKW.

Ich bin außerdem dafür, jeden PKW-Fahrschüler eine Stunde in einem LKW mitfahren zu lassen, damit PKW-Fahrer ein Gespür dafür bekommen, welchen Radius der LKW-Fahrer überhaupt sieht.

Ein anderes Problem sind leere LKWs, vor allem in Baustellen. Die wenigsten Menschen wissen, dass ein leerer LKW schon mal 20 cm springt, wenn er eine Windböe abbekommt. Mit diesem Wissen würde sich so manche gefährliche Situation im Straßenverkehr vielleicht vermeiden lassen.

(Links): René Große-Vehne, Geschäftsführer GV Trucknet und Burkhard Metzger, Präsident der Landesverkehrswacht Baden-Württemberg e.V. Bild: Landesverkehrswacht Baden-Württemberg

Unfälle mit dem LKW – können Sie uns sagen, wie viele Sie pro Jahr haben?

Wir haben jährlich zwischen 600 und 700 Kleinunfällen, bei denen mal ein Spiegel abbricht oder ein Lackschaden entsteht. Schwere Unfälle mit großen Schäden oder bei denen sogar Personen betroffen sind, kommen zum Glück nur ein- bis zweimal im Jahr vor.

Wir haben seit zwölf Jahren alle Fahrzeuge mit Safety-Packages ausgestattet, dazu gehört auch der Abstandswarner. Vor der Sicherheitsaufrüstung hatten wir eine deutlich kleinere Flotte, doch im Schnitt acht solcher schweren Unfälle jährlich.

Das Thema Sicherheit wollen wir weiter vorantreiben, nicht nur um andere Verkehrsteilnehmer zu schützen, sondern ebenso unsere eigenen Fahrer. Der letzte tödliche Unfall ist zum Glück schon lange her, das war 2008.

Was macht das mit Ihnen, wenn so etwas passiert?

Das ist schrecklich. Seit ich in der Firma bin, ist das zweimal vorgekommen. Das erste Mal 2005, da war ich ganz frisch dabei. Der Fahrer hatte die Motorbremse bei Glatteis von vier auf zwei gedrosselt, was einen großen Schub auslöste. Der Fahrer war nicht angeschnallt und wurde vom Fahrzeug erfasst. Das war eine bittere, tragische Geschichte.

Und wenn Sie dann auf der Beerdigung hinter dem Sarg und der Frau mit zwei kleinen Kindern hergehen, fühlen Sie sich schrecklich, obwohl Sie selbst gar nichts dafürkönnen. Allein der Gedanke schafft noch heute ein unwohles Gefühl in mir. Und die Namen dieser Mitarbeiter vergessen Sie auch nie.

Selbstverständlich unterstützen wir die Familie unserer Fahrer im Rahmen unserer Möglichkeiten seelisch, organisatorisch und auch finanziell, wenn ein Unfall mit tödlichem Ausgang passiert.

Welches ist die weiteste Strecke, die Ihre Fahrer zurücklegen müssen?

Aktuell ist das die Strecke von Stuttgart/Kornwestheim nach Sebes in Rumänien. Das ist eine einfache Strecke von 1.450 Kilometern, die wir für Daimler fahren.

Für das Werk Sebes sind wir das Cross-Dock. Das heißt, alle Gebietsspediteure liefern die Lieferantenteile für Rumänien bei uns an. Wir holen aus dem Werk Hedelfingen die Produktionsteile. Wir bündeln alles und übernehmen die Umverpackung von den Produktionskörben in Transportbehältnisse mit VCI-Folie, damit die Teile nicht rosten. Danach fahren wir alles nach Rumänien und der Fahrer bringt anschließend von dort fertige Getriebe mit zurück.

Haben Sie selbst Familie und auch Hobbys oder leben Sie vorwiegend für Ihr Unternehmen?

Ich bin mit einer tollen Frau verheiratet. Wir leben ein ganz normales Leben. Ich spiele Tennis, jogge, lese, treffe Freunde – alles ganz unspektakulär. Ich mache all die Sachen, die ich mache, gerne und mit großer Freude. Dazu gehört auch mein Job. Gar nichts zu tun, fällt mir dagegen unheimlich schwer – selbst im Urlaub.

Herr Große-Vehne, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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