60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei: Eine Gastkolumne von Nejdet Niflioğlu

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Am 30. Oktober jährt sich die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei zum sechzigsten Mal. Über die Gründe der Anwerbung von Arbeitskräften aus dem europäischen und nordafrikanischen Ausland wurde schon viel geschrieben. Auch über das Für und Wider dieser Maßnahmen wurde schon viel diskutiert. Diese Diskussion möchte ich hier nicht fortsetzen.

Kontroverse Themen sachlich zu besprechen ist per se nicht leicht. Vorbehalte gegenüber Meinungen, die wir nicht teilen, konnten wir noch nie wegdiskutieren. Im besten Fall verließen wir die Diskussion mit dem Gefühl, unsere besten Argumente auf die Mitdiskutanten abgefeuert zu haben. Doch ist es uns jemals gelungen, diese tatsächlich umzustimmen? Wahrscheinlich nicht.

Eine gute Moderation von kontrovers geführten Gesprächen ist hilfreich. Leider fehlt uns diese gute Moderation wenn es um Themen der Zuwanderung, Integration und friedvolles Zusammenleben verschiedener Kulturen geht. Wir hangeln uns von Erfolgsgeschichte zu Musterbeispiel gelungener Integration. Wir genießen die erfolgreichen sportlichen, wirtschaftlichen, kulinarischen oder kulturellen Bereicherungen, die Zuwanderer in unsere Gesellschaft einbringen. Doch leider empören wir uns auch häufig über Probleme, die es ohne Zuwanderung gar nicht gäbe.

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Natürlich empören wir uns zurecht darüber. Doch zu glauben, nur Angehörige der sogenannten Aufnahmegesellschaft würden sich ärgern ist nicht richtig. Leider kennen wir alle das Gefühl des Fremdschämens nur zu gut.

Verallgemeinerungen und Schubladen Denken sollten wir sowieso vermeiden. Denn Verallgemeinerungen schaffen Trugbilder von Menschen und Dingen. Wie oft mussten wir im Ausland schon klarstellen? Nein, Deutsche tragen nicht immer Lederhosen und Gamsbarthut, ernähren sich nicht ausschließlich von Bier, Bockwurst und Kartoffelsalat, trinken Sangria nicht gewohnheitsmäßig aus Eimern…

Bezogen auf uns selbst reagieren wir auf Voreingenommenheit individuell verschieden. Wir sind je nach Gemütslage amüsiert, entsetzt, verärgert oder beleidigt. Da sollte es uns doch möglich sein zu akzeptieren, dass nicht alle Niederländer einen Wohnwagen besitzen, nicht jeder Kenianer ein begnadeter Langstreckenläufer ist, oder nicht jeder Türke ein Gemüsehändler?

Ebenfalls interessant: Nicht jeder Einwanderer aus der Türkei ist muslimisch, konservativ oder Anhänger der aktuellen Regierungspartei der Türkei. Wahrscheinlich ist eine viel größere Gruppe dieser Menschen all das nicht, was bestehende Ressentiments über den typischen türkischen Mitbürger verbreiten. Leider geht es diesen Menschen fast so, wie den deutschen Urlaubern auf Mallorca. Die öffentliche Wahrnehmung konzentriert sich nicht auf die mehrheitlich friedlichen Urlauber aus Deutschland, sondern auf die relativ kleine Gruppe der lärmenden, grölenden Ballermann-Touristen. Macht es Sinn, sich vom Verhalten dieser Gruppe zu distanzieren? Wie könnte ein Gespräch aussehen, die diese Gruppe zur Vernunft bringt?  In unregelmäßigen Abständen sehen sich auch die türkeistämmigen Menschen in Deutschland mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Die Empörung über Unangepasstheit, Bildungsverweigerung etc. ist in dieser Community genauso groß, wie in der Aufnahmegesellschaft, doch viele sehen sich gar nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun.

Wir alle zusammen bilden gemeinsam die Gesellschaft in Deutschland. In dieser Gesellschaft teilen wir nicht nur Lebensräume. Wir gehen darin gemeinsam zur Schule, zur Ausbildung, zur Arbeit. Wir erziehen unsere Kinder darin, unterstützen unsere Notleidenden, pflegen unsere Kranken und Alten. Gemeinsam leben wir in einem Sozialsystem, um das uns die ganze Welt beneidet. Doch dieses Sozialsystem fußt zu einem großen Teil auf das weit verbreitete Ehrenamt in Deutschland. Freiwillige Feuerwehr, DLRG, Rotes Kreuz, THW um nur einige Organisationen zu nennen, sind unverzichtbare Bestandteile dieses vorbildlichen Sozialsystems. Doch die demographische Entwicklung reißt vielerorts gewaltige Lücken in die Funktionsfähigkeit der Freiwilligenorganisationen. Gemeinden ohne eigene Berufsfeuerwehr sind angewiesen auf ihre Freiwillige Feuerwehr. Nicht auszudenken, was passiert, wenn im Schadensfall diese mangels Nachwuchs nicht ausrücken kann. Wenn Bühnenveranstaltungen nicht stattfinden können, weil die Anwesenheit eines Feuerwehrmannes vorgeschrieben ist. Wenn medizinische Notfälle nicht schnell genug versorgt werden können,  Sportveranstaltungen ausfallen müssen weil keine ehrenamtlichen Ersthelfer des Rot Kreuz, Johanniter etc. vor Ort sind. Badeanstalten und Badeseen geschlossen bleiben weil es keine Rettungsschwimmer gibt. Dieser Fall ist im Sommer 2019 in einer Gemeinde im Schwarzwald bereits eingetreten. Alle Badeanstalten mussten mitten im Sommer geschlossen bleiben. Meine persönliche Meinung ist, dass sich diese Organisationen ganz dringend öffnen müssen. Sie müssen für Migranten zugänglich und attraktiver werden. Diese Organisationen werden einen großen Beitrag zur guten Integration von zugewanderten Menschen leisten, wie es viele Sportvereine bereits tun.

Integration bedeutet, sich gesellschaftlich einzubringen. Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen sehe ich als wichtigen Faktor einer gelungenen Integration. Je schneller wir diese Zugänge schaffen, desto beständiger erhalten wir das vorbildliche Sozialsystem, das uns allen so wichtig ist.