Das große Interview mit Kliniken-Chef Prof. Dr. Jörg Martin: “Die Mitarbeiter in den Corona-Bereichen sind mittlerweile ausgebrannt und leer”

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Als Chef der RKH-Kliniken bekommt Professor Dr. Jörg Martin jeden Tag aufs Neue die Auswirkungen von Corona unmittelbar mit. Der 63-jährige Mediziner, der selbst viele Jahre auf der Intensivstation gearbeitet hat, zeichnet dafür verantwortlich, dass seine 11.000 Mitarbeiter in den insgesamt zwölf Kliniken vor dem Virus so gut wie möglich geschützt sind, die Covid 19-Patienten optimal betreut werden und der sonstige Krankenhausalltag weitestgehend unbeeinträchtigt weiterläuft. Keine leichte Aufgabe in Zeiten der nun schon seit über einem Jahr anhaltenden Pandemie. Wie er diese Herausforderung meistert und dabei auf seine eigene Gesundheit achtet, erzählt der erfahrene Klinikchef ausführlich im Interview mit Ludwigsburg24.

Ein Interview von Patricia Leßnerkraus und Ayhan Güneş

Professor Martin, die wichtigste Frage in diesen Zeiten zuerst: Wie geht es Ihnen?

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Danke, mir geht es sehr gut. Wir haben jetzt zwar ein hartes, anstrengendes Jahr hinter uns und es wird auch noch eine Weile so weitergehen, aber dank toller Mitarbeiter haben wir alles ganz ordentlich hinbekommen und die Aufgaben gut bewältigt.

Heißt das, dass Sie selbst bislang nur beruflich mit Corona konfrontiert waren?

Gott sei Dank, ich selbst habe bislang kein Corona gehabt, aber ich habe mich auch immer geschützt und kürzlich meine erste Impfung mit AstraZeneca bekommen. Diesen Impfstoff habe ich mir aus Überzeugung geben lassen, weil ich ihn für sehr, sehr gut halte. Dazu mache ich jeden Tag einen Schnelltest, bislang war er immer negativ.

Testen Sie sich selbst oder lassen Sie testen?

Eine meiner Mitarbeiterinnen in der Verwaltung ist gelernte Krankenschwester. Sie führt jeden Morgen bei mir einen medizinischen Schnelltest durch. Wir bieten dies auch allen anderen Mitarbeitern fünfmal die Woche an, was sehr rege genutzt wird. Zusätzlich testen wir die Patienten ebenfalls zwei- bis dreimal pro Woche, damit versuchen wir wirklich auf der sicheren Seite zu sein, um möglichst früh eine Infektion zu erkennen und isolieren zu können.

Wie achten Sie außerhalb des Berufsalltags auf Ihre Gesundheit? Nehmen Sie zusätzliche Präparate wie beispielsweise Vitamin D?

Nein, ich nehme nichts in diese Richtung und ergreife auch keine anderen Maßnahmen. Ich lebe genauso weiter wie ich sonst auch immer gelebt habe. Natürlich versuche ich, einigermaßen gesund zu essen, gönne mir gelegentlich ein Gläschen Wein dazu.

Treiben Sie regelmäßig Sport?

Wenn es die Zeit erlaubt, dann gehe ich gerne Joggen. Zuhause habe ich ein Heimrudergerät, da setze ich mich hin und wieder drauf. Das hilft, um von den Belastungen herunterzukommen und mich abzureagieren. Ebenso gerne und oft gehe ich mit unserem Hund spazieren. Das ist ein Rauhaar Vizla, ein ungarischer Jagdhund, diese Rasse sieht man aber nur sehr selten.

Hat sich Ihr Arbeitspensum seit Ausbruch der Pandemie sehr erhöht?

Nein, das kann ich so nicht bestätigen, denn ich hatte schon immer ein sehr hohes Arbeitspensum, da wir eine sehr große Organisation sind. Die Anzahl und die Form der Sitzungen haben sich jedoch enorm verändert. Dadurch, dass wir die meisten Sitzungen jetzt per Videokonferenz durchführen, sind diese durch den Wegfall der Wegezeiten natürlich noch enger getaktet. Sie schalten quasi um und sind schon in der nächsten Sitzung drin. Durch diese veränderte Arbeitsweise gönne ich mir alle zwei Wochen auch mal einen Tag Homeoffice. Mit den Videokonferenzen lässt sich das jetzt alles sehr gut organisieren.

Werden Sie diese Arbeitsweise auch nach Corona beibehalten?

Da wir eine große Holding sind, werden wir diese Form der Sitzungen sicherlich in großen Teilen beibehalten, wobei ich dafür plädiere, zwischendurch auch mal eine Präsenzsitzung abzuhalten, um den sozialen Austausch zu ermöglichen. Es ist enorm wichtig, in Pausen mal das eine oder andere Wort zu wechseln. Corona hat tatsächlich in der Digitalisierung einen enormen Schub gebracht und das werden wir auch nicht mehr zurückschrauben.

Wo liegen momentan für Sie die allergrößten Herausforderungen?

Die größten Herausforderungen für uns waren die zweite und dritte Welle. Die erste Welle hatte die größte Herausforderung, ausreichend Schutzkleidung zu beschaffen, was extrem schwierig war. In der zweiten Welle hatten wir einen immensen Ausfall von Mitarbeitern, durch viele Erkrankungen. Die dritte Welle zieht sich nun schon ziemlich lange hin, obwohl die Zahlen rückläufig sind. Da die älteren Menschen meist geimpft sind, behandeln wir inzwischen sehr viel jüngere Patienten, die aber genauso schlimm erkranken und lange bei uns auf Intensiv liegen. Wir haben fünf ECMO-Konsolen, also künstliche Lungen, die sind immer besetzt. Unser Thema ist derzeit, dass die Mitarbeiter in den Corona-Bereichen mittlerweile ausgebrannt und leer sind. Über ein Jahr Krise mit einer Übersterblichkeit, das ist einfach eine enorme Belastung und nimmt die Mitarbeiter doch sehr mit.

Wie werden die Mitarbeiter aufgefangen?

Wir versuchen selbstverständlich mit verschiedenen Angeboten zu helfen. Wir haben ein Sorgentelefon, bieten Yoga und Massage an. Damit wollen wir die Mitarbeiter motivieren, die das mit großem Engagement annehmen.

Gibt es Mitarbeiter, die wegen der Corona-Belastungen aufgegeben und den Dienst quittiert haben?

Von zwei Mitarbeitern weiß ich definitiv, dass sie in diesem Beruf nicht mehr weiterarbeiten werden. Sie suchen sich eine andere Aufgabe eventuell im ambulanten Pflegedienst oder machen etwas ganz Anderes außerhalb der Medizin, weil sie es mental nicht mehr aushalten. Wenn Sie auf einer Intensivstation einen Corona-Beatmungspatienten zwei, drei Wochen versorgen und er dann stirbt, dann erleben Sie das nicht nur einmal, sondern innerhalb dieser Pandemie eben sehr viel häufiger. Nach wie vor liegt die Corona-Sterblichkeit auf den Intensivstationen leider noch sehr hoch.

Wie viel Kontakt haben Sie als Klinikchef überhaupt zu Mitarbeitern und Patienten?

Da ich nicht mehr als Arzt arbeite, habe ich auch keinen Kontakt mehr zu Patienten. Mitarbeiterkontakte habe ich immer wieder, meist dann, wenn ich mal einen Besuch auf einer Station abstatte. Aber bei insgesamt zwölf Kliniken und einem Managementmandat in Reutlingen gibt es jede Menge anfallende Arbeit, um die ich mich kümmern muss, so dass ich auch nicht immer vor Ort sein kann. Was wir allerdings machen, ist zweimal die Woche eine zehn- bis fünfzehnminütige Lageinformation per Videochat, die ich nach Möglichkeit persönlich abhalte.

Wie sieht es bei Ihnen in der Klinik in Ludwigsburg aus, stoßen Sie bereits an die Grenzen Ihrer Kapazitäten?

Wir waren des Öfteren an der Grenze unserer Kapazitäten. Aber genau deshalb haben wir in Baden-Württemberg ein Clustersystem eingeführt, das heißt, dass wir das Bundesland rund um die Standorte der Universitätskliniken in sechs Großregionen eingeteilt haben, also Heidelberg, Ulm, Tübingen und Freiburg plus die Cluster Ludwigsburg-Stuttgart und den Cluster Karlsruhe. Jeder hat die Daten der anderen Kliniken zur Verfügung. Wenn also eine Überfüllung einer Intensivstation drohte, konnte man den oder die Patienten in eine andere Klinik mit noch freien Kapazitäten verlegen, so dass die Versorgung sowohl der Covid-Patienten, aber auch der anderen Notfall-Patienten zu jeder Zeit gewährleistet war. Es hat zu keiner Zeit Grund zur Panik bestanden. Während der zweiten Welle gab es in Baden-Württemberg über 400 Verlegungen, was zwar mit einem großen Organisationsaufwand verbunden war, aber immer für einen guten Ausgleich gesorgt hat.

Eines Ihrer formulierten Ziele ist, die Klinikgruppe als Komplettversorger auf dem allerhöchsten medizinischen Niveau ansiedeln wollen. Wo stehen Sie mit Ihrem Ziel aktuell und hat Corona Ihre Pläne durcheinandergewirbelt?

Wir sind extrem gut aufgestellt, weil wir mit Ludwigsburg einen Maximalversorger haben, der außer Herzchirurgie nahezu alle Fachgebiete hat. Wir haben einen Spezialversorger in Markgröningen und noch kleinere Versorgungskrankenhäuser. Durch den Mangel an Schutzkleidung während der ersten Welle, hat uns das in weiteren Aktivitäten nahezu gelähmt, das muss ich leider sagen. Wir hatten tatsächlich Stillstand und konnten die Pläne nicht so weiterentwickeln, wie wir es wollten. In der zweiten sowie dritten Welle haben wir unsere Vorhaben wieder ein Stück vorangetrieben, was beispielsweise die Vernetzung oder Ambulantisierung betrifft oder die Kooperationen und den Aufbau der Präventionsmedizin.

Wie haben Sie die Gesundheits- und Krisenpolitik auf Bundes- sowie Landesebene empfunden. Waren Sie zufrieden und hatten das Gefühl, die wissen schon was sie tun? Oder haben Sie sich eher im Stich gelassen gefühlt?

In der ersten Welle sind wir wirklich alle überrascht worden, wobei eigentlich schon 2012 Szenarien durchgespielt wurden, was passiert, wenn eine Pandemie kommt. Deswegen war ich schon etwas perplex, dass gerade bei der Schutzkleidung kein Minimalvorrat angelegt worden war. Das haben wir schnell erkannt und haben rechtzeitig vor der zweiten Welle uns einen eigenen Vorrat in Teilbereichen mit einer Reichweite von bis zu fünf Monaten aufgefüllt. Das hat natürlich eine Menge Geld gekostet. In der zweiten und vor allem in der dritten Welle sehe ich schon sehr die Politik in der Verantwortung. Im Oktober letzten Jahres hat man zuerst einen Lockdown light angeordnet. Der hat nicht gewirkt, weshalb man das Ganze zunächst verschärft, aber dann zu Weihnachten wieder gelockert hat. Die Quittung dafür haben wir prompt im Januar erhalten. Danach gingen die Zahlen wieder schön runter. Am 3. März war die Ministerpräsidentenkonferenz und die Inzidenz lag in Deutschland bei 60. Damals hätten sich die Politiker dafür entscheiden müssen, nochmals einen Lockdown von zwei bis drei Wochen dranzuhängen, so, wie es andere Länder auch gemacht haben. Wahrscheinlich hätten die Inzidenzen anschließend nur noch bei rund 20-25 gelegen. Stattdessen hat man wieder aufgemacht und postwendend kam die dritte Welle, weil die Impfungen noch nicht weit genug waren. Das waren rein politische Entscheidungen, über die wir nicht erfreut waren, zumal es die Experten anders vorausgesagt hatten. Wir haben im letzten Jahr knapp 1.900 Covid-Patienten behandelt. In diesem Jahr sind es jetzt schon über 1.000, was eine ganz enorme Zahl ist.

Die Inzidenz im Kreis Ludwigsburg sinkt. Glauben Sie, dass wir den Peak der dritten Welle überschritten haben?

Neben der Inzidenz schaue ich mir auch immer den R-Wert an, der nahezu in allen Altersgruppen inzwischen unter 1 liegt. Am niedrigsten ist er derzeit bei der Gruppe der über 80-Jährigen, weil da die meisten Menschen durchgeimpft sind. Wir haben den Peak sicherlich überschritten, aber wir Krankenhäuser merken das erst drei bis vier Wochen später. Der Peak bei uns ist quasi erst diese Woche erreicht.

Können Sie uns aktuell den jüngsten und den ältesten Patienten auf Ihrer Intensivstation nennen?

Aktuell habe ich es nicht im Kopf, aber ich weiß, dass wir einen 23-Jährigen hatten und über 90-Jährige. Derzeit liegt der Durchschnitt unter 60.

Können Sie die Wirkung der Impfungen bereits erkennen?

Die Wirkung ist da, weil wir jetzt nicht mehr die geimpften über 80-Jährigen auf Intensiv haben, sondern die ungeimpften jüngeren Menschen. Das heißt also, dass die Impfung essenziell etwas bringt. Impfung und Test sind letztlich das A und O, dazu die Einhaltung der Corona-Regeln. Wir müssen schauen, dass wir mit dem Impftempo vorankommen. Wir haben derzeit auf den Intensivstationen sehr hohen Prozentsatz an Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen, die aus sozial schwierigen Gebieten kommen. Da muss die Politik noch mehr drauf reagieren, indem man in diese Brennpunkte hineingeht, vermehrt Aufklärung auch in den Landessprachen betreibt und vermehrt Impfangebote macht. Denn es sind genau die Menschen, die nicht ins Impfzentrum kommen, aber die müssen wir eben auch erreichen. Wir selbst haben uns die Aufklärungsbogen in zehn Sprachen besorgt und haben unsere Corona-Informationen, AHA-Regeln und Impferklärungen in einfacher Sprache verfasst.

Wie gut wird das Impfen bei Ihren Mitarbeitern angenommen?

Das wird hervorragend angenommen. Die Mitarbeiter sehen ja täglich das Leid der Patienten. Wir haben anfangs nur AstraZeneca zum selber Impfen bekommen, das lief gut an. Dann gab es Diskussionen über diesen Impfstoff, da haben dann zwar ein paar der Mitarbeiter abgesagt, aber laut meiner Betriebsärzte haben wir eine Impfdurchdringung von 70 bis 80 Prozent, was schon sehr gut ist.

Wie geht man mit Mitarbeitern in den Hochrisikobereichen um, die sich einer Impfung verweigern?

Neben der Impfung ist der zweite wichtige Schutz die Testung, die wir wie schon gesagt fünfmal pro Woche anbieten. Diese Möglichkeit nutzen viele fast täglich, weil sie mit dem Ergebnis auf dem Handy somit beispielsweise auch zum Friseur gehen können.

Stichwort Fachkräftemangel: Laut Statistischem Bundesamt verdienen Vollzeit-Fachkräfte im Schnitt 3.500 € brutto. Zu Beginn der Pandemie hat man schnell gesehen, dass es sich hier um eine systemrelevante Berufsgruppe handelt. Es gab von der Bevölkerung Applaus als besondere Wertschätzung. Das reicht den Betroffenen nicht, sie fühlen sich zu schlecht bezahlt…

Insgesamt stimmt das und ich sage das nicht erst seit Ausbruch von Corona. Eine Pflegekraft; die viel Verantwortung trägt und für den Patienten da ist, ist nicht wirklich gut bezahlt. Das betrifft aber auch Erzieherinnen und ähnliche Berufsgruppen. Hier muss ein gesellschaftlicher Konsens her, dass uns deren Arbeit mehr wert ist, so wie es beispielsweise in der Schweiz ist. Aber das muss bezahlt werden können, was im Endeffekt bedeutet, dass die Krankenversicherung eben nicht mehr 15,5 Prozent kostet, sondern evtl. 17 Prozent. Wenn ich Geld ausgeben will, muss ich mir überlegen, woher es kommen soll. Die Politik muss uns zu einem gesellschaftlichen Konsens hinführen und die Tarifparteien müssen es aushandeln. Dennoch: Geld ist sicherlich ein ganz wichtiger Motivator, aber eben auch nicht der einzige.

Woran denken Sie noch als Motivation?

Wir machen uns derzeit Gedanken, wie wir den Pflegeberuf attraktiver machen können. Wir haben deshalb mit einer Akademisierungswelle angefangen, denn der Wissenschaftsrat empfiehlt, dass 10 bis 20 Prozent der Pflegekräfte akademisiert sein sollen, um ihnen mehr Aufgaben übertragen zu können. Die Autonomie der Arbeit ist ein wesentlich größerer Motivator als Geld. Wer diesen Beruf ergreift, weiß zudem, dass er samstags, sonntags und auch nachts arbeiten muss, was in der heutigen Zeit nicht sehr attraktiv ist.

Das monetäre ist nicht alles, richtig, dennoch finden es die Pflegekräfte nicht gerecht, wenn der Gesundheitsminister sich schwertut, noch nicht mal den versprochenen Bonus von 500 € an alle auszuzahlen…

Wir haben jetzt wieder einen Zuschuss bekommen und mit dem Betriebsrat so besprochen, dass wir nicht jedem Mitarbeiter gleich viel auszahlen, sondern splitten, weil die Mitarbeiter bislang unterschiedlich belastet waren. Wir haben eine Vierergruppierung gemacht, die besagt: Intensivkräfte mit Covid bekommen am meisten, die Pflege, die nur gelegentlich mit Covid zu tun hat, bekommt etwas weniger, die im Bettenhaus kriegen nochmal weniger und die Mitarbeiter in Verwaltung und Technik erhalten den Rest. Das ist eine kleine, einmalige Motivationshilfe, aber die hält nicht lange.

Wie begegnen Sie den Menschen, die Corona verleugnen und die angeordneten Maßnahmen als Eingriff in ihre Grundrechte sehen?

Persönlich habe ich damit ein riesiges Problem und meine Mitarbeiter ebenfalls. Wir sehen jeden Tag das Leid, das Corona auslöst. Und wenn ich dann Corona-Demos in Stuttgart auf dem Wasen sehe, wo 10.000 Menschen ohne Maske und Abstand in großen Gruppen zusammenstehen, da frage ich mich schon, wo wir leben. Wir haben Meinungsfreiheit, aber das Bundesverfassungsgericht hat weise erklärt, dass gegen diese Ausgangssperren nicht ad hoc entschieden werden kann, sondern dass das Gericht Zeit dafür braucht. Es hat aber auch gesagt, dass jetzt zunächst alles getan werden muss, um diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Allerdings bekommen wir als Deutschland das Problem nicht allein bewältigt, denn wir leben in einer globalen Welt. Und solange Corona in Indien oder Afrika so durch die Decke geht, werden wir alle ein Problem haben.

Wo sehen Sie die Lösung für dieses Problem?

Es bedarf einer weltweiten Impfaktion. Ich bin ein großer Gegner vom Aufhebeln der Patentrechte, weil sonst niemand mehr Lust hat zu forschen. Vielmehr müssen wir die Produktionskapazitäten ausweiten. Jetzt kommt mit Curevac aus Tübingen ein ganz toller Impfstoff, der bei plus fünf Grad lagern kann, also ideal, um ihn auch für die Dritte Welt zu verimpfen.

Was halten Sie von der mRNA-Technologie?

Die ist super, ein Quantensprung. Bevor die ersten Impfstoffe auf dem Markt waren, gab es riesige Ängste und Diskussionen, ob der Stoff in die DNA eingreift. Inzwischen ist es umgekehrt. Die alten Vectorimpfstoffe werden verteufelt und alle wollen mRNA-Technik. Der Vorteil ist, dass man durch diese Technologie sich sehr schnell auf plötzliche Mutanten einstellen und entsprechend reagieren kann. Ich bin sicher, dass die mRNA-Technik weitergehen wird. Nicht nur beim Impfen, sondern vor allem auch in der Tumortherapie. Dafür sind die Firmen ja ursprünglich gegründet worden.

Die dritte Welle ist rückläufig, Experten und Politiker machen Hoffnung auf einen normalen Sommer. Rechnen Sie dennoch mit einer vierten Welle?

Ja, wir werden jetzt ein paar schöne Monate haben, davon bin ich ebenfalls überzeugt. Aber wir stellen uns ab November auf eine vierte Welle ein, doch wird sie nicht so hoch und dramatisch werden. Die Welle wird nicht nur jahreszeitlich bedingt sein. Es ist auch so, dass es sich politisch nicht durchsetzen lässt, die zur Vermeidung einer nächsten Welle notwendigen Beschränkungen so streng aufrecht zu erhalten. Denken Sie einfach mal an die vielen Jugendlichen, die jetzt mehr oder weniger seit einem Jahr quasi wie eingesperrt sind, das ist schon heftig. Wir werden eine Generation Corona haben, und zwar die Generation, die jetzt zur Schule geht. Denen fehlt einfach ein wichtiges Jahr. Doch wir werden diese Pandemie in den Griff bekommen. Mit einer Durchimpfung von 70 bis 80 Prozent haben wir die Herdenimmunität geschaffen, falls nicht irgendein Mutant kommt, der auf den Impfstoff nicht reagiert. Ansonsten fangen wir wieder von vorn an. Aber wir werden uns trotzdem darauf einrichten müssen, mit Corona zu leben. Wir müssen lernen, mit einer gewissen Inzidenz zwischen 0 und 10 umzugehen.

Wie werden Sie persönlich im Sommer mit dem Thema Urlaub umgehen?

Momentan habe ich geplant, im Juli für ein paar Tage nach Wien zu fahren. Dort lebt mein Sohn, den ich seit einem Jahr nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gesehen habe. Einen Urlaub im Ferienhaus in Frankreich habe ich ebenfalls gebucht, den kann ich aber bei veränderter Corona-Lage noch drei Tage vor Antritt wieder stornieren.

Sie sind ursprünglich Anästhesist, haben früher selbst viel auf Intensiv gearbeitet. Warum sind Sie ins Gesundheitsmanagement gewechselt?

Wie so oft ist es auch bei mir bedingt durch viele Zufälle. Ich habe mich schon während meiner klinischen Zeit sehr für Qualitätsmanagement und Management interessiert. Und wie es sich gehört für Ärzte und Pfleger, hat man einen gemeinsamen Feind, nämlich die Verwaltung. Man kritisiert, was und wie man alles besser machen muss. Als man mir dann genau diese Aufgabe angetragen hat, musste ich mich entscheiden. Ich war sehr gerne Arzt und es hat mir auch im ersten Jahr meiner Verwaltungstätigkeit sehr weh getan, keinen Patientenkontakt mehr zu haben. Aber ich habe mich der neuen Aufgabe sehr konsequent gewidmet, bin von einem Tag auf den anderen vom Patientenbett weg ins Management gegangen und habe es nie bereut.

Sie sind jetzt hier bis 2023 gewählt. Können Sie sich eine Verlängerung vorstellen oder ist dann eher Schluss?

Das kann ich heute noch nicht sagen, denn darüber habe ich mir bislang noch keine Gedanken gemacht. Ich mache meinen Beruf mit allen Widrigkeiten sehr, sehr gerne, weil ich eine sehr gute Belegschaft habe und viel bewegen kann.

Sie sind gebürtiger Hesse aus Alsfeld, zum Studium ins Schwabenland gekommen und geblieben – aus Überzeugung?

Ich wohne in Stuttgart und bin inzwischen überzeugtester Wahlschwabe. Nachdem ich 15 Jahre Kehrwoche regelmäßig gemacht hatte, merkte ich, dass ich angekommen bin, als mir mein Nachbar seine Stihl-Motorsäge ohne Aufsicht geliehen hat. Das war dann der schwäbische Ritterschlag.

Herr Prof. Martin, wir danken Ihnen für das Gespräch!