Reiner Pfisterer: “Die Rückkehr der Musik”

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Ein Gastbeitrag von Reiner Pfisterer – Fotograf und leidenschaftlicher Verfechter guter Musik 

„Früher war alles besser, früher war alles gut.“ Diese Textzeile sang Campino schon 1986 im Stück Wort zum Sonntag – und wenn man die Situation der Kultur und der Kulturschaffenden betrachtet, kommt man sechs Monate nach dem Corona- Lockdown nicht daran vorbei, diesem Satz erst einmal komplett zuzustimmen.

Für Musikbands gab es in den letzten Jahren viele Möglichkeiten, live aufzutreten und damit auch Geld zu verdienen. Vor allem die Anzahl der Sommerfestivals stieg in den letzten Jahren stark an. Die Livebranche boomte, doch auf einen Schlag kam Mitte März die Vollbremsung.

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Doch kurz zurück zu den Toten Hosen. Es ist zwar schon eine Weile her, dass ich die Düsseldorfer Punkrocker über viele Jahre hinweg intensiv bei Konzerten und Tourneen begleitete, doch manche Eindrücke sind so stark, als ob es gestern gewesen wäre. Darunter befinden sich auch zwei der eindringlichsten Konzerterlebnisse, die ich bisher erfahren durfte oder musste. Das eine war ein Wohnzimmerkonzert in Buenos Aires, bei dem auf 50 Quadratmetern 50 Besucher und 5 Musiker einen unvergesslichen Abend voller Lachen und grenzenlosem Spaß  hatten. Und dann gab es auf der anderen Seite den tragischen Tod einer jungen Frau beim tausendsten Konzert der Band vor vielen Jahren. Ein traumatisches Erlebnis für Band und Crew! Sie starb aufgrund des unglaublichen Gedränges zu Beginn des Auftritts im vorderen Bereich des ausverkauften Düsseldorfer Rheinstadions im Jahr 1997. Zwei extreme Konzertsituationen, die man sich aktuell kaum mehr vorstellen kann.

Wenn man genreübergreifend ein Synonym für die Situation bei Konzerten des Sommers 2020 sucht, dann ist es weder Körperkontakt, Schweiß noch Enge. Das Wort der Stunde ist Beinfreiheit. Konzerte finden mit Corona-Abstand im Sitzen statt. Das muss man als passionierter Pogotänzer nicht gut finden, aber es ist die neue Realität. Und je schneller wir uns alle mit der  neuen Situation arrangieren, desto leichter fällt es uns, das alles zu akzeptieren und gemeinsam das Beste daraus zu machen und nach vorne zu blicken.

Wer in der Musikbranche wartet, dass der Corona-Spuk endlich vorbei ist, der wird möglicherweise auf der Strecke bleiben. Kreative Konzepte sind mehr denn je gefragt. Zugleich ist die traurige Wahrheit, dass es zur Zeit fast unmöglich ist, mit Livemusik und Konzerten Geld zu verdienen. Sehr viele Veranstaltungen und Festivals sind nur durch staatliche Zuschüsse, persönlichen Enthusiasmus und Sponsoren überhaupt durchführbar. Das Gebot der Stunde ist es, sichtbar zu bleiben und zu zeigen, dass Kultur systemrelevant ist und damit aus unserem Leben – vor und mit Corona – nicht weg zu denken ist. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen, dass die Strukturen, die das alles über Jahrzehnte ermöglichten, erhalten bleiben, denn sie sind die Lebensadern.

Die Initiative #alarmstuferot der Veranstaltungsbranche ist ein dramatischer Hilferuf. Unzählige Existenzen stehen auf dem Spiel.

Da ich seit 30 Jahren unter anderem als Musikfotograf arbeite, bin ich nah an der Branche und an den Nöten der Künstler und Veranstalter dran und natürlich bin ich als Fotograf auch direkt von der Absage vieler Festivals betroffen.

Nach kurzem Besinnen im Frühjahr startete ich mein Fotoprojekt DIE RÜCKKEHR DER MUSIK.  Seither dokumentiere ich im Großraum Stuttgart – meiner Heimat – wie sich die Livemusik ihren Platz und die öffentliche Wahrnehmung zurückholt: Konzerte auf Parkhäusern, in kleinen Zirkuszelten, in Autokinos oder auch nur gestreamt. Klassik in der ausverkauften Stuttgarter Liederhalle vor zugelassenen 99 Zuschauern. Chorproben unter einem Nussbaum, weil Singen in Räumen nur sehr eingeschränkt durchführbar ist oder Trommeln für Demenzkranke in einem Altenheim, da auch die wöchentliche Singstunde aus Sicherheitsgründen gestrichen wurde. Glückliche Senioren, die zu den Klängen von Helene Fischer auf die Trommel schlagen. Dieses Bild des Jahres 2020 wird mir für immer im Gedächtnis bleiben. So wie einst das Wohnzimmerkonzert in Buenos Aires.

In meinem Projekt Die Rückkehr der Musik geht es um die Liebe zur Musik und den unbedingten Wunsch, diese Liebe weiterzuleben.  Es geht nicht nur um die Nöte der Profis, sondern um Lebensqualität und diese ist für ganz viele von uns mit gemeinsamem Musizieren verbunden.

Ich bin mir sicher, dass es eine Zukunft gibt, in der wir wieder mit 15000 Menschen in der ausverkauften Schleyerhalle stehen, singen und feiern werden. Wann das ist, kann im Moment niemand prognostizieren. Doch dann werde ich meine Musikfotos aus der Coronazeit in einer großen Ausstellung zeigen und damit erzählen „was früher einmal war“.

Info:

Der Ludwigsburger Fotograf Reiner Pfisterer ist 1967 in Bietigheim-Bissingen geboren und startete seine Fotografenlaufbahn Anfang der 90er Jahre vorwiegend als Musikfotograf. Im Lauf der Jahre arbeitete er für Künstler wie Metallica,  Muse, Amy McDonald und die Rolling Stones.

Langzeitreportagen über die Jazz Open Stuttgart, die Brenz Band oder die TSG Hoffenheim, sowie Buch– und Ausstellungsprojekte zu gesellschaftlichen und sozialen Themen sind weitere Schwerpunkte seiner Arbeit.

Das Stuttgarter Kammerorchester begleitet er seit dem Jahr 2010 bei Konzertreisen im In-und Ausland. Das Buch „Gut gespielt ist nicht genug. Die Welt des Stuttgarter Kammerorchesters“ ist im August 2020 im Verlag Urachhaus erschienen.

Aktuell arbeitet er an der Serie „ Die Rückkehr der Musik“, einer Dokumentation über Konzerte  und Livemusik unter Corona-Bedingungen.