Michael Theurer: “75 Jahre liberaler Neuanfang – Lehren aus der Geschichte”

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Ein Gastbeitrag des FDP-Landesvorsitzenden und -Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer

September 1945: Deutschland liegt in Trümmern. Mit der Kapitulation Japans endete der Zweite Weltkrieg, Deutschland diskutiert bereits über Wiederaufbau. In Stuttgart bespricht eine kleine Gruppe, wie es nun weiter gehen soll. Einige waren vor der Machtergreifung in der liberalen Deutschen Demokratischen Partei gewesen, die Kriegsniederlage empfinden sie als Befreiung vom Joch der Nazi-Diktatur. Für die Gruppe um Wolfgang Haußmann und Reinhold Maier ist klar: Der erfolgreiche Aufbau eines demokratischen Deutschlands muss mit marktwirtschaftlichen und sozialen Prinzipien verknüpft und durch die Gründung von Parteien vorangetrieben werden. Nur so kann man Wohlstand und Frieden erreichen. Bereits am 18. September 1945 gründen sie die “Demokratische Volkspartei Groß-Stuttgart”, einen Tag nachdem die Amerikaner lokale Parteigründungen erlauben.

Die Bewegung erhält schnell Zulauf, so dass es bereits im Hungerwinter 1946 beim traditionellen liberalen Dreikönigstreffen in der ungeheizten Stuttgarter Oper zur Gründung der überregionalen Demokratischen Volkspartei (DVP) kommt. Gründungsvorsitzender wird der inzwischen dazu gestoßene Theodor Heuss. Dieser treibt die Gründung der FDP voran und wird am 12. Dezember 1948 ihr erster Vorsitzender, die DVP wird Landesverband der FDP. Dass es vom ersten Tag an wieder Menschen gab, die sich für den Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung eingesetzt haben, war alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil ist es eine Besonderheit des Südwest-Liberalismus, dass seine Wurzeln tief und seine Sprösslinge immer da sind.

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Nun ist Tradition aber nicht das Bewahren der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers. Viele der Themen und Ideale der DVP-Gründer sind auch heute, genau 75 Jahre später, noch relevant. Während Haußmann als Justizminister Baden-Württembergs gegen den anfänglichen Widerstand des CDU-Ministerpräsidenten und späteren Bundeskanzlers Kurt-Georg Kiesinger eine strafrechtliche Aufklärung der Nazi-Verbrechen durchsetzt, lehrte Heuss den Bürgern der jungen Demokratie den Pluralismus. Das geht gut zusammen: Auf dem Boden des Grundgesetzes müssen auch abstruse Meinungen diskutiert werden dürfen, darüber hinaus jedoch nicht. Da ist einiges verloren gegangen. Der antiautoritäre  Linksliberalismus, der einmal Grünen und intellektuelle Zirkel der SPD prägte, verblasst hinter Staatshörigkeit, Identitätspolitik, dem Glauben an die eine, eigene Wahrheit. Weil sich die offene Gesellschaft Stück für Stück verschließt und etwa Menschen, die das Problem einer Pandemie anders bewerten, aus dem Diskurs ausschließt, ja gar als Extremisten verächtlich macht, verliert gleichzeitig die Verächtlichmachung ihren Schrecken. Wer wegen Lappalien oder schlicht konservativen Positionen als Nazi bezeichnet wird, für den normalisiert sich diese Bezeichnung – und er verliert seine Immunisierung gegen die echten Feinde der Demokratie.

Es ist auch Reinhold Maier, dem ersten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, zu verdanken, dass die freiheitlich-demokratische Ordnung der jungen Republik und eine demokratische Streitkultur in breiten Bevölkerungsschichten Wurzeln schlagen konnten – er prägte für sein Politikbild “von unten” den Begriff Graswurzeldemokratie. Diese hat funktioniert, weil sie die zentrale Rolle des Mittelstands in der deutschen Gesellschaft anerkannte. Die Mehrheit der Deutschen arbeitet im Mittelstand: Sei es als Freiberufler, Handwerker und Selbständige oder als Angestellte bei einem der tausenden Hidden Champions. Durch den Mittelstand gibt es einen lebendigen ländlichen Raum, eine echte Wahlmöglichkeit für Arbeitssuchende und letztlich auch einen soliden gesellschaftlichen Zusammenhalt durch eine viel breitere Verteilung des Produktivvermögens. Doch den Mittelstand treffen Verbotspolitik und Bürokratie viel härter als einen Großkonzern. Eine Lehre aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik muss auch sein, den Mittelstand wieder viel stärker in den Blick zu nehmen.