Nichts für schwache Nerven: Ludwigsburgerin als Respektlotsin unterwegs

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Von Uwe Roth

Ehrenamtliches Engagement… klingt in den Ohren Vieler altmodisch. Vor allem das Wort Ehrenamt. Es ist ein freiwilliger Job, der im günstigen Fall dem Ansehen gute Noten bringt, aber auf keinen Fall auch nur einen Cent. Ehrenämter könnten was für ältere Menschen sein, die ihr Leben schon abgesichert haben. Helin Kurul sieht das komplett anders. Die Frau ist 21 Jahre jung. Sie hat kein dickes Einkommen und dennoch keinerlei Berührungsängste mit einem Ehrenamt. Sie nimmt sich sogar erstaunlich viel Zeit dafür. „Mich zu engagieren, gibt mir die Möglichkeit, Leute und deren Meinungen kennenzulernen“, sagt sie. Helin Kurul ist neugierig aufs Leben, will wissen, wie Menschen ticken. Sie trifft ständig neue Leute, hört zu und hat Einblicke in die Lebenswelt ihrer Generationen, wie dies nicht häufig vorkommen dürfte.

Helin Kurul ist in Ludwigsburg geboren und hat die meiste Zeit ihrer 21 Jahre in der Barockstadt gelebt. 2017 ist sie in den Jugendgemeinderat der Stadt gewählt worden. Ein Jahr später hat sie ihr Mandat zurückgegeben, weil sich Lebenspläne bei ihr manchmal schnell ändern können. In den vergangenen drei Jahren ist viel passiert; einige Zeit lebte sie in Stockholm. Nun ist sie zurück – auch im Ehrenamt: Seit August arbeitet sie als Respektlotsin – allerdings in Stuttgart. Im Inselbad in Untertürkheim unterstützt sie mit anderen Freiwilligen die Bademeister, Regeln der Bäderordnung durchzusetzen, ohne dass die zumeist jugendlichen Badengästen Ärger machen, wenn man sie an diese erinnert.

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Vor einem Jahr zeigte ein Vorfall im Inselbad, dass ein Bademeister tatsächlich nicht mehr die unangefochtene Respektsperson ist. Damals drohte ein Konflikt aus dem Ruder zu laufen. 50 junge Menschen gegen die Bademeister. Die Situation war am Ende nicht so brenzlig wie die vor einigen Wochen in der Stuttgarter Innenstadt, wo es zu heftigen Auseinandersetzung zwischen jungen Menschen und der Polizei mit zahlreichen Verletzten kam. Die Stadt Stuttgart zunehmende Vermüllung öffentlicher Partyplätze das Projekt mit den Respektlotsen. Helin Kurul ist mit 14 weiteren Kandidaten ausgewählt und zu einer Schulung geschickt worden. Eine Art Deeskalationstraining.

Im blauen T-Shirt mit der Aufschrift „Respektlose“ geht sie über das Freibadgelände und hat keine Probleme damit, auf Badegäste ihres Alters mit der Frage zuzugehen: „Was bedeutet für euch Respekt?“ Viele verschiedene Antworten bekommt sie zu hören. Ihre persönliche Definition entspricht dem alten Sprichwort, was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu. Oder moderner ausgedrückt: „Ich behandele Leute so, wie ich behandelt werden möchte.“

In Ludwigsburg, sagt sie, wäre der Einsatz von Respektlotsen auch nicht schlecht. Sie denkt dabei an den Akademiehof, der an Wochenenden schon öfter von der Polizei geräumt wurde, weil Streitereien unter Jugendlichen eskalierten. Oder der Innenstadtcampus: Seit dort Basketballkörbe hängen, wird der Platz am Goethe-Gymnasium zum Sportmachen und Abhängen immer beliebter, aber auch unruhiger. Ein Einsatz auf dem Bahnhofsvorplatz wäre ihr dagegen zu gefährlich. Da herrscht ihr zu viel Kriminalität. Ihr ist es zwar wichtig Position zu beziehen, nicht zuzugucken, sondern einzuschreiten, wenn Leute fertiggemacht werden. Doch sie weiß, an welchem Punkt ihre Zivilcourage endet, um nicht in Gefahr zu kommen.

Respektloses Verhalten der Menschen ihrer Generation kann sie nachvollziehen, aber sie verteidigt schlechtes Benehmen nicht. Häufig sieht sie die Ursache für provokante Grenzüberschreitungen in der Öffentlichkeit im Elternhaus, das sich um die Kinder entweder zu wenig kümmere oder das viel zu streng sei und in dem Ohrfeigen bei kleinsten Anlässen normal seien. Das beobachtet sie vor allem in Familien mit Migrationshintergrund, in denen Vater und Mutter mit überzogener Strenge und körperlicher Gewalt ihren Kindern den sozialen Aufstieg in Deutschland beibringen wollen.

Was die junge Frau absolut nicht mag, sind Vorurteile und Verallgemeinerungen: die Jugend, die Ausländer, die Flüchtlinge… „Ihr wollt nur die sehen, die ihr sehen wollt“, sagt sie zu denen, die straffällige Flüchtlinge im Fokus haben, aber nicht diejenigen, die sich gut integrieren.

Ihre Motivation für dieses Engagement erklärt die Ludwigsburgerin mit ihrer Biografie: „In meinem Leben war ich schon öfters auf Hilfen angewiesen. Und ich habe immer Unterstützung bekommen. Davon möchte sie etwas zurückgeben.“ Auch kleine Dinge könne Großes bewirken, sagt sie und nennt als Beispiel die weltweite „Black Lives Matter“-Bewegung, die vor vier Jahren mit einer einzigen Twitter-Nachricht begonnen habe.

Helin Kurul beginnt demnächst eine Ausbildung zur Pflegefachkraft im Klinikum Ludwigsburg. „Krankenschwester gefällt mir als Begriff viel besser“, sagt sie. Für sie klingt das persönlicher und menschlich näher. Die Patienten können sich auf sie freuen.