Zwischen Religion und Konflikt: Ein Gedankensplitter von Ludwigsburgs Pfarrer Martin Wendte

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Inmitten der aktuellen unübersichtlichen und aufgewühlten Situation, geprägt von den jüngsten terroristischen Angriffen der Hamas und den möglichen militärischen Reaktionen Israels:

Ein Gedankensplitter von Pfarrer Dr. Martin Wendte:

“Diese Gedankensplitter formuliere ich in eine zutiefst unübersichtliche und aufgewühlte Situation hinein. Unübersichtlich und aufgewühlt im äußeren Sinne, weil noch unklar ist, welche weitergehenden Militäraktionen Israel nach den terroristischen Angriffen der Hamas starten wird. Unübersichtlich und aufgewühlt aber auch im inneren Sinne, weil die Angriffe auf Israel mich sehr beschäftigen. Teils schlecht schlafen lassen. Denn diese Attacken sind nicht nur furchtbare Menschenrechtsverletzungen und grausamste antisemitische Taten. Sondern von ihnen sind auch wir Christinnen und Christen im Kern unserer Identität betroffen.

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Bei aller Unübersichtlichkeit möchte ich drei bleibende Einsichten darlegen. Erstens: In ihren wichtigsten Auslegungen zielen Judentum, Christentum und Islam auf Frieden, nicht auf Krieg. Auf einen Frieden, der mehr ist als die bloße Abwesenheit von Krieg. Es ist ein Frieden, der aktive, positive Beziehungen zu anderen Menschen innerhalb und auch außerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft mitumfasst. „Shalom“ oder „Salam“ – also: das hebräische und arabische Wort für Frieden – hat genau diese Bedeutung.  Auch wenn es innerhalb der großen Religionen faktisch immer wieder andere Auslegungen und Handlungen gibt, gilt: In ihrem Kern zielen alle Religionen auf umfassenden Frieden. Der aktuelle Konflikt ist damit im Kern auch kein Konflikt zwischen den Religionen. Vielmehr geht er gegen ein wesentliches Ziel der großen Religionen.

Entsprechend fühle ich mich verbunden mit vielen Stimmen aus allen großen Religionen, die die Terrorattacken der Hamas scharf verurteilen. Sie alle trauern um die Opfer der Gewalt. Sowohl um die Opfer, die auf israelischer Seite zu beklagen sind, als auch um die Opfer auf Seiten derjenigen Palästinenser, die die Angriffe der Hamas ablehnen. Sie alle wissen zugleich, dass ein zukünftiger Frieden dem Sicherheitsbedürfnis Israels, aber auch der anderen Seite Rechnung tragen muss.

Zweitens: Gemeinsam mit allen Religionen setzt sich das Christentum für den Frieden ein und trauert um die Opfer beider Seiten. Doch zugleich hat es eine ganz besondere Beziehung zum Judentum und damit auch zu Israel. Denn der Gott, zu dem Jesus gerufen hat, ist zugleich der Gott des Judentums. Der Gott, den Jesus „Vater“ nannte und den wir Christinnen und Christen auch „Vater“ nennen, ist zugleich der Gott des Judentums. Der Gott, den wir im „Vaterunser“ anrufen mit der Bitte, dass sein Reich des Friedens komme, ist zugleich der Gott des Judentums. Er war es und ist es und wird es immer sein.

Und daher gilt: Die Terrorattacken gegen Israel erschüttern auch unsere eigene Identität als Christinnen und Christen. Denn die, die unseren Gott auch Gott nennen, werden zu Geiseln genommen, gefoltert und ermordet. Bei aller denkbaren Kritik an den verschiedenen Regierungen Israels in den letzten Jahren führt diese theologische Grundeinsicht zu einer einzigartigen Nähe des Christentums zum Judentum. Sie ist gerade jetzt zu betonen. Und wir müssen ihr in Taten entsprechen.

Drittens: Durch die Terrorattacken werden grundlegende politisch-militärische Fragen zur Zukunft Israels und des Nahen Ostens ebenso aufgeworfen wie grundlegende theologische Fragen zum Verständnis des Friedens und der Zuordnung von Christentum und Judentum. Wir sollten uns von der Größe dieser Fragen aber nicht lähmen lassen. Vielmehr sollten wir vor Ort dasjenige für den Frieden tun, was wir können. Das heißt vor allem: dass wir unseren jüdischen Brüdern und Schwestern Hilfe anbieten, wo es geht. Und dass wir zusammenstehen für den Frieden und gegen Hass und Gewalt. Das gelingt uns in Ludwigsburg recht gut. Am Sonntag, den 08. Oktober, organisierten wir ein spontanes Friedensgebet auf dem Marktplatz, an dem neben Christen nicht nur Buddhisten, sondern auch Muslime teilnahmen – ein starkes Zeichen. Das wurde ermöglicht durch viele Kontakte und Beziehungen, die in den letzten Jahren im „Dialog der Religionen“ und an vielen anderen Begegnungsorten zwischen Vertretern verschiedener Religionen entstanden. Diese Beziehungen sollten wir nun an vielen Orten weiter gestalten. Egal, ob Muslim, Jüdin oder Christ, egal, ob Buddhistin oder Nicht-Gottgläubig: Helfen wir unseren jüdischen Geschwistern, wo es geht. Und: Leben wir am Arbeitsplatz und in der Familie, in Diskussionen in der Öffentlichkeit und unter Freunden gerade in dieser unübersichtlichen und aufgewühlten Situation denjenigen Frieden, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg und der uns als Ziel alle verbindet!”

Dr. Martin Wendte

Pfarrer der Friedenskirche in Ludwigsburg und Citykirchenpfarrer