Ukraine-Krieg: Unsere Freunde – wo sind sie geblieben? Ein Gastbeitrag von Dr. Rainer Haas

Bis zum 24. Februar dieses Jahres waren wir nur von Freunden umgeben – und jetzt ist Krieg! Über Jahrzehnte hatten wir uns an den Frieden gewöhnt. Der Zweite Weltkrieg lag über 75 Jahre zurück, Europa gewährte uns ein Leben in Freiheit, die Mauer fiel, in der Europäischen Union stritt man sich über Schulden, Brexit, Flüchtlingsverteilung und Corona, und die Nato wurde als hirntot bezeichnet. Das alles hat uns blind gemacht, vor allem auch die politischen Ebenen bis hin zur Europäischen Union. In Deutschland wurden die Verteidigungsausgaben heruntergefahren und die “Wehrpflicht” abgeschafft. Die Wirtschaft florierte und trieb Handel weltweit. Produktion und Fertigung lebenswichtiger Medikamente und zentraler Komponenten unserer Industrie wurden in Länder außerhalb Europas verlagert, wo die Löhne am niedrigsten und die Preise am günstigsten waren, und die für einen Wirtschaftsstandort à la Bundesrepublik dringend notwendige Energie wurde zu einem immer größeren Teil aus Russland bezogen. Heute ist es fast nicht mehr vorstellbar, dass unsere Abhängigkeit von russischem Gas bis noch vor wenigen Wochen durch Nordstream II weiter zementiert werden sollte und dies bedeutende Politiker/innen standhaft als rein wirtschaftliches Projekt bezeichnet hatten. Deutschland bemühte sich darin, allen zu gefallen und entgegenzukommen. Es war die Zeit der “Appeasement-Politik”.

Was für ein böses Erwachen! Niemand auf der politischen Ebene, aber offensichtlich auch nicht in den maßgeblichen Wirtschaftskreisen hatte der Tatsache, dass der russische Präsident die Milliarden-Einnahmen aus dem Verkauf von Kohle, Erdöl und Gas an Deutschland und andere Staaten der Europäischen Union besonders gerne in Waffen und seine Armee investierte, die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt. Seine “militärischen Operationen” in Tschetschenien, Georgien waren zu weit weg, um bei uns größere Aufmerksamkeit zu erregen, der gelegentliche “Todesfall” eines Regimekritikers eher unbedeutend, und nicht einmal die Besetzung der Krim stand dem Nordstream II- Projekt entgegen!

Doch jetzt hilft es wenig, über die in der Vergangenheit gemachten Fehler zu lamentieren. Nach der nun eingetretenen “Zeitenwende” können wir nur nach vorne blicken und rasch die notwendigen Konsequenzen ziehen.

Ganz Europa befindet sich im Krieg! Der russische Präsident hat unserer europäischen, freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der Art, wie wir leben, den Kampf angesagt. Diesen Kampf führen für uns die Ukrainerinnen und Ukrainer unter der Führung von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Wenn sie den Krieg verlieren sollten, weiß niemand, was der russische Präsident als nächstes plant zur Umsetzung seiner auf langer Hand geplanten Großmacht-Phantasien. Neben der Aufnahme von ukrainischen Kriegs-Flüchtlingen sind wir Europäer auch im eigenen Interesse zu konsequenten Sanktionen gegenüber Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine verpflichtet. Es ist zu hoffen, dass beides erfolgt und nicht zu viel davon in politischen Debatten zerredet wird.

Deutschland kann nicht umhin, wieder einen deutlich größeren Verteidigungs-Beitrag zu leisten. Auf Amerika können wir uns nicht mehr verlassen. Das wissen wir seit der Amtszeit von Präsident Trump, aber wir wissen nicht, wie es in Amerika nach Präsident Biden weitergehen wird. Wir sollten – nicht nur deshalb – auch die Situation bei uns in Deutschland überdenken. Die Einführung eines sozialen Jahres für alle jungen Menschen – in einer sozialen Einrichtung in Deutschland, einem europäischen Mitgliedstaat oder aber in der Armee – sowie die stärkere Thematisierung der Bedeutung unseres Staatswesens und Europas im Schulunterricht würden die Verbindung zwischen Bürger und Staat/Europa stärken. Die Politik sollte auch im Übrigen nicht davor zurückschrecken, ihren Bürger/innen außer Ansprüchen und Rechten gelegentlich auch Pflichten aufzuerlegen. Und anstatt in immer größerem Maße Partikularinteressen Beachtung zu schenken, sollte dem Interesse der Allgemeinheit wieder mehr Bedeutung zugemessen werden. Dies ist für die Handlungsfähigkeit eines Staates unabdingbar. Dazu gehört auch die ehrliche Ansage an die Bevölkerung, dass der Krieg in der Ukraine Folgen haben wird für Deutschland und die Staaten der Europäischen Union – nicht nur in emotionaler und politischer Hinsicht, sondern auch wegen seiner finanziellen Konsequenzen. Dies wird auch Einschränkung und Verzicht bedeuten. Man sollte den Menschen nicht vorgaukeln, der Staat könne alles bezahlen und alles laufe weiter wie bisher.

Die letzten Skeptiker müssen endlich erkennen, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht weiter auf die lange Bank geschoben werden darf! Als wäre die drohende Klimakatastrophe nicht schlimm genug, ist jetzt hoffentlich die geo-strategische Bedeutung der Energiegewinnung allen Verantwortlichen klar vor Augen geführt worden. Durch den Kauf fossiler Energien über zu viele Jahre haben wir totalitäre Staaten stark gemacht. Deutschland – und in der Folge Europa – muss energetisch autark werden. Der Ausbau von Windkraft und Photovoltaik muss konsequent und energisch vorangetrieben und darf nicht länger in politischen Hinterzimmern verzögert werden. Parallel dazu müssen wir auch in die Datensicherheit investieren. Spätestens die Abstimmung bei den Briten über den Brexit und die Trump-Wahl in den USA haben uns deutlich gemacht, dass heute von außen versucht wird, auf Abstimmungen und Wahlen auf digitalem Weg Einfluss zu nehmen. Schon lange ist im Netz ein Cyber-Krieg in vollem Gange. Auch sollte es nicht sein, dass die großen Provider vor allem in Amerika sitzen!

Wir alle in Europa müssen uns wieder auf die politisch-strategische Bedeutung der Europäischen Union und der Nato zurückbesinnen! Die Situation in einer von Großmächten dominierten globalen Welt, die drohende Klimakatastrophe, Corona und jetzt der Angriffskrieg auf die Ukraine haben uns eindrücklich vor Augen geführt, welche Rolle Deutschland, aber auch die übrigen europäischen Mitgliedstaaten – jeder für sich – spielen würden ohne das Gewicht der europäischen Gemeinschaft. Deutschland muss bereit sein, in der Europäischen Union mit Freunden und bewährten Partnern, wie den großen EU-Gründerstaaten Frankreich und Italien, eine Führungsrolle zu übernehmen. Mehr Mehrheitsentscheidungen sind das Gebot der Stunde, um Blockaden durch einzelne Mitgliedstaaten zu verhindern. Die Weiterentwicklung der Europäischen Union im Sinne einer immer engeren Zusammenarbeit, wenigstens im Rahmen eines “Europas der zwei Geschwindigkeiten”, ist heute wichtiger denn je – allerdings auch eine klare Kante gegenüber jenen Staaten, die von der Rechtsstaatlichkeit und anderen europäischen Werten abweichen. Europäisches Geld darf es hier nicht geben!

Der Angriffskrieg des russischen Präsidenten auf die Ukraine kann – neben allem furchtbaren menschlichen Leid – auch eine Chance sein. Nutzen wir sie mit unseren europäischen Freunden!

 

“Es ist Eure Wahl” – Ein Kommentar von Ayhan Güneş

Die erste Runde der Präsidentschaftswahl in der Türkei am 14. Mai 2023 ist vorbei, und am 28. Mai steht die Stichwahl bevor. Im Vorfeld dieser Wahlen haben sich zahlreiche führende Politikerinnen und Politiker aus Deutschland deutlich gegen die aktuelle türkische Regierung positioniert und für einen Machtwechsel plädiert. Dieses Eingreifen in den Wahlkampf eines anderen souveränen Landes wirft wichtige Fragen auf und erfordert eine sorgfältige Betrachtung.

Spulen wir kurz zurück: Vor dem eigentlichen Wahldatum wurden türkische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die in Deutschland leben, dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeteiligung war hoch, und laut den vorläufigen Zahlen der türkischen Wahlbehörde gaben rund 730.000 Personen in Deutschland ihre Stimme ab. Die Wahlbeteiligung bundesweit lag bei etwa 48,8 Prozent.

Nachdem knapp 98 Prozent der Wahlurnen geöffnet wurden, steht laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu fest: Der amtierende Präsident konnte in Deutschland mehr als 65 Prozent der Stimmen für sich verbuchen, was mehr als 460.000 Wahlberechtigten entspricht. Auf den Herausforderer entfielen knapp 33 Prozent der Stimmen.

Das Eingreifen ausländischer Politiker in die Wahlen anderer Länder ist eine kontroverse Angelegenheit. Befürworter argumentieren, dass politische Akteure ihre Meinung frei äußern können sollten, insbesondere wenn es um Menschenrechte, Demokratie oder andere grundlegende Werte geht. Sie könnten behaupten, dass das Eingreifen in den türkischen Wahlkampf eine Möglichkeit für deutsche Politiker war, ihre Unterstützung für Oppositionskandidaten zum Ausdruck zu bringen und sich für ihre politischen Überzeugungen einzusetzen.

Auf der anderen Seite könnten Kritiker argumentieren, dass ausländische Politiker sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen sollten. Einige könnten dies als Einmischung in die Souveränität und die demokratischen Prozesse des Landes betrachten. Darüber hinaus könnte argumentiert werden, dass das Eingreifen ausländischer Politiker die innenpolitische Dynamik und den Wahlprozess eines Landes beeinflussen könnte.

Es ist verständlich, dass politische Akteure ihre Unterstützung für demokratische Werte und Menschenrechte zum Ausdruck bringen möchten. Insbesondere in Fällen, in denen grundlegende Prinzipien und Freiheiten in Frage gestellt werden, verspüren politische Führungspersonen den Drang, ihre Stimme zu erheben und Solidarität mit der Opposition zu zeigen. Dies könnte als Ausdruck des Glaubens an universelle Werte und des Engagements für eine gerechtere Zukunft betrachtet werden.

Dennoch ist es wichtig, die möglichen Auswirkungen einer solchen Einmischung zu bedenken. Wahlempfehlungen aus dem Ausland könnten zu Reaktionen bei den Wählerinnen und Wählern führen, die sich von den politischen Entscheidungsträgern in Deutschland bevormundet fühlen könnten. Der Widerstand aus Trotz oder der Wunsch nach Unabhängigkeit könnten dazu führen, dass einige Wählerinnen und Wähler bewusst das Gegenteil von dem tun, was empfohlen wurde.

Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass eine starke Einmischung aus dem Ausland die innenpolitische Dynamik eines Landes beeinflusst und das Vertrauen der Wählerschaft untergräbt. Die Souveränität eines Landes sollte respektiert werden, und die Entscheidungen über politische Führungspersonen sollten vor allem von den Wählerinnen und Wählern im Inland getroffen werden.

Es ist daher wichtig, dass politische Mandatsträger die Balance zwischen dem Ausdruck ihrer Überzeugungen und dem Respekt vor den demokratischen Prozessen anderer Länder finden. Die Meinungsfreiheit ist ein grundlegendes Recht, aber auch die möglichen Konsequenzen einer Einmischung in einen Wahlprozess müssen bedacht werden. Eine verantwortungsvolle und respektvolle Herangehensweise ist erforderlich, um das Vertrauen in demokratische Prozesse zu wahren und den Wählern die Freiheit zu lassen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen – unabhängig davon, wie diese aussehen mögen.