“Masken und Menschen” – Ein Gastbeitrag von Joachim Kölz

Die Corona-Pandemie hat innerhalb weniger Monate unser Leben, so wie wir es gewöhnt waren, wie wir es geliebt haben, auf den Kopf gestellt. An die leider notwendigen Einschränkungen unseres täglichen Lebens haben sich zumindest die meisten von uns gewöhnt – auch wenn ein Lebensmitteleinkauf oder eine Shoppingtour mit Maske weniger Spaß macht – und ich meinen Kolleginnen und Kollegen auf den Fluren im Rathaus gerne ins (ganze) Gesicht schauen würde, um zu sehen, ob Sie ein Lächeln oder Probleme mit sich herumtragen. Und ein Jahr fast ohne Urlaubsreisen und mit weniger Besuchen in Restaurants, Bars, Clubs und Kneipen schont zwar das Portemonnaie, hebt aber gerade beim jetzigen herbstlichen Schmuddelwetter die Stimmung nicht ins Unermessliche.

Und trotzdem müssen wir uns alle darauf einstellen, dass der Spuk noch lange nicht vorbei ist, dass die neuen Regeln notwendig sind und diese, wenn wir einen zweiten Lockdown vermeiden wollen, umgesetzt werden müssen. Wir alle dürfen, zum Schutz unserer Mitbürgerinnen und Mitbürgern, nicht nachlassen in unserem Bemühen, diese Einschränkungen mitzumachen – und müssen sie auch mittragen und für ihre Notwendigkeit werben. Die gerade auf uns zurollende zweite Infektionswelle zeigt uns schmerzlich auf, dass wir nicht zu schnell wieder in alte Verhaltensweisen zurückfallen dürfen, weil das Virus dann genauso schnell wieder die Krankenhäuser füllen wird – auch mit schweren Fällen und tödlichen Verläufen.

Menschlichkeit heißt in diesen Zeiten, zuerst an die Mitmenschen zu denken und erst in zweiter Linie an sich selbst, gerade diejenigen zu schützen, die eine Infektion nicht so leicht wegstecken werden, vor allem die alten und kranken Menschen, die jetzt unseren besonderen Schutz brauchen. In den letzten Jahren hat der Egoismus in unserer Gesellschaft spürbar zugenommen – vielleicht hilft uns Corona dabei, wieder mehr an andere zu denken als an uns selbst.

Gerade deshalb muss es uns gelingen, dieses neue Leben mit dem Coronavirus auch zu einer neuen Normalität werden zu lassen. Wir alle werden noch viel mehr als bisher lernen müssen, mit den Einschränkungen, die die Pandemie von uns verlangt, in unserem Alltag umzugehen und unser Leben um diese Regeln herum ein Stück weit neu zu erfinden. Dazu gehört auch, dass wir uns – immer unter Beachtung der Regeln, der Abstände, der Hygiene – nicht verstecken müssen. Unsere Kommunen und unsere Wirtschaft brauchen auch in Pandemiezeiten Menschen, brauchen Kunden, brauchen Mitarbeiter und brauchen auch Konsumenten, die aktiv sind. Die in der Gemeinschaft mit ihren Familien und ihrem Umfeld eine neue Normalität gestalten und weiter am öffentlichen Leben teilhaben, sich einbringen und sich engagieren. Nur dann wird es auch gelingen, in der vermutlich noch viele Monate dauernden Phase coronabedingter Restriktionen unser Gemeinwesen und unsere Wirtschaft am Leben zu erhalten. Denn beides muss sein – und darf sich auch nicht ausschließen: Einerseits die nötige Vorsicht und ein andererseits ein Leben, das sich nicht nur im Wartestand auf einen Impfstoff befindet.

Gerade für unsere vor Kraft strotzende Region Stuttgart mit ihren starken Städten und Gemeinden ist es dabei eminent wichtig, dass ihre Bewohnerinnen und Bewohner zu dieser neuen Lebensweise finden, die sie trotz allem glücklich und zufrieden macht – lassen Sie uns gemeinsam versuchen, diese vielen kleinen Schritte zu machen, die es braucht, um dem Virus, wenn wir es schon nicht von heute auf Morgen besiegen können, zwar mit viel Respekt, aber auch mit Selbstvertrauen, mit der nötigen Ruhe und Gelassenheit und manchmal auch mit einem Augenzwinkern zu begegnen.

Und wenn dann ein lautes Lachen unter der Maske die Brille beschlagen lässt, ist es allemal besser als ein griesgrämiges Dreinschauen ohne das Stück Stoff vor Mund und Nase!

Militärischer Standortübungsplatz bedroht Nachsorgeklinik in Tannheim

Ein Gastbeitrag von Günther Przyklenk – 1. Vorsitzender Förderverein der Deutschen Kinderkrebsnachsorge

Seit 30 Jahren gibt die Nachsorgeklinik Tannheim Familien mit schwer chronisch kranken Kindern neue Kraft und Hoffnung. Sie bietet familienorientierte Rehabilitationen bei krebs-, herz- oder mukoviszidoseerkrankten Kinder einer Familie.  Allein aus dem Landkreis Ludwigsburg waren es 300 Menschen, die im letzten Jahr in Tannheim Unterstützung erhielten.

Im April 2019 fand in der Ludwigsburger Musikhalle erstmals eine Benefizveranstaltung zugunsten der Nachsorgeklinik Tannheim statt. Schirmherr war der damalige Ludwigsburger Oberbürgermeister Werner Spec.

Wie schon 2019 benötigt die Nachsorgeklinik in Tannheim auch aktuell die Unterstützung der Ludwigsburgerinnen und Ludwigsburger. Wenn es nicht so Ernst wäre, müsste man eigentlich über diese Geschichte laut lachen.

Bewusst haben sich die Verantwortlichen der Klinik vor 30 Jahren für den Standort inmitten des Schwarzwaldes entschieden. Die Ruhe, Abgeschiedenheit sowie die Luftqualität waren ausschlaggebend für die Ansiedlung in der Umgebung vom verkehrsgünstig gelegenen Villingen-Schwenningen. Denn die betroffenen Familien benötigen eine Oase der Ruhe und Begegnung, um nach den schweren Krankheitsverläufen wieder als Familie ins Leben zurückzufinden.

Vor wenigen Wochen platzte jedoch eine „Bombe“ im friedlichen Tannheim. Fast schon dem Zufall ist es zu verdanken, dass man von den Planungen der Bundeswehr erfuhr, nur wenige Kilometer von der Klinik entfernt einen neuen Standortübungsplatz einzurichten. Es sollte wohl eine weitgehend geheime Operation bleiben, denn Baumaßnahmen der Bundeswehr werden üblicherweise nicht öffentlich diskutiert. Die Bevölkerung wird meist mit Tatsachen konfrontiert.

Das sehen die Verantwortlichen der Klinik aber nicht so und riefen eine Petition ins Leben, um diesen Standortübungsplatz zu verhindern. Zumal das geplante Gelände eine Naturschutzzone ist und im besonders geschützten Bereich des „Naturpark Südschwarzwald“ liegen würde.

Mehr als 30.000 Unterstützer haben aktuell bereits die Petition unterschrieben, die an Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages gerichtet ist. Um den Unmut über diese militärische Planung nachhaltig zum Ausdruck zu bringen, strebt man 50.000 Unterschriften an. Deshalb erhofft sich die Klinikleitung von den Leserinnen und Lesern von Ludwigsburg24 weitere Unterstützung. Wenn auch Sie mithelfen wollen, den Standortübungsplatz zu verhindern, können Sie mit nachfolgendem Link zur Petition der Nachsorgeklinik gelangen.

LINK: Petition für Nachsorgeklinik

Der Link kann natürlich kopiert und an Freunde und Bekannte weitergeleitet werden. Auch die Sparda-Bank hat in den letzten Tagen mit einem Aufruf bei Ihren Kunden dafür gesorgt, dass weitere 6.000 Unterschriften von Kundinnen und Kunden hinzukamen.

Inzwischen gibt es mehr als 6.800 – zum Teil – harsche Kommentare in der Petition zu den Planungen der Bundeswehr. Hier ein Beispiel:

„Die Neueinrichtung eines Standortübungsplatzes dieser Größe in bis dato militärisch ungenutztem Gebiet ist im Jahr 2020 nicht mehr zeitgemäß und völlig unangebracht. Noch absurder wird das Ganze, da bereits vor der Entscheidung zur Schließung des Standorts Immendingen (inklusive adäquatem Übungsplatz) klar war, dass für den Standort Donaueschingen dann keine ausreichenden Übungsmöglichkeiten im Umkreis mehr vorhanden sein würden. Es war jedoch politischer Entschluss Immendingen trotzdem aufzugeben und das Gelände an Daimler zu verkaufen. Jetzt muss die Politik auch die schmerzhafte Konsequenz gehen und den mittlerweile rein nationalen Bundeswehrstandort Donaueschingen aufgeben…“

Dieser beispielhafte Kommentar verdeutlich, welche militärischen Fehlplanungen jüngst in dieser Region geschehen sind. Die Klinikleitung legt allerdings großen Wert auf die Feststellung, dass diese Initiative sich nicht gegen die Bundeswehr im Allgemeinen richtet und Ihrer Aufgabe, für Recht, Frieden und Freiheit zu sorgen. Vielmehr steht die Petition für die nicht nachvollziehbare aktuelle Standortplanung gegenüber von Tannheim. Die Auflösung des Standortübungsplatzes im nahe gelegenen Immendingen im Jahr 2016 führt nun zu dieser unsäglichen Neuplanung. Und dass, obwohl aktuell in Meßstetten sowie in Stetten am kalten Markt genügend Übungskapazitäten vorhanden sind.

Wenn auch Sie die Petition unterstützen wollen, freut sich die Nachsorgeklinik in Tannheim sehr darüber.

E-Mobilität: Neue Chancen für die Zukunft

Eine Gastkolumne Kolumne von Daniel Haas

In kaum einem Bereich werden wir in naher Zukunft die Veränderung durch neue Technologien so sehr erleben können wie im Bereich der Mobilität. Nicht erst seit der Corona-Pandemie ist die Automobilbranche in Deutschland in heller auf ruhe. Die Art, wie wir von A nach B kommen, wird sich in den nächsten zehn Jahren grundlegend ändern.

Bedingt durch Faktoren wie den Klimawandel und die erhöhte Luftverschmutzung ist eine weitere Nutzung fossiler Brennstoffe für die Mobilität bereits heute nicht mehr zu verantworten. 2025 wird Norwegen als eines der ersten Länder Neuzulassungen stoppen. China will die Anzahl der zugelassenen Benziner ab sofort jährlich reduzieren. An der Stelle vom Verbrennungsmotor treten elektrisch betriebene Fahrzeuge, mit Batterie oder mit Wasserstoffzellen.

Die Auswirkungen, die die Elektrifizierung der Autos auf den gesamten Automobilsektor haben wird, damit auch auf den Wirtschaftsstandstandort Baden-Württemberg möchte ich mit einem „einfachen“ Beispiel näher erklären: Ein Verbrennungsmotor hat über 1.000 bewegliche Teile. Eine Reihe spezialisierter Zulieferer produziert vom Anlasser bis zur Zündkerze alle Einzelteile. Ein Elektromotor hingegen besteht aus rund 20 Teile. Wenn Elektroautos den Verbrennungsmotor verdrängen, bricht der Markt der Zulieferer weg, ein Fundament des deutschen Mittelstandes.

Auch der deutsche Staatshaushalt wird dadurch betroffen sein. Über die Energieabgabe nimmt der Staat rund 40 Mrd. Euro pro Jahr ein. Fast 90% der Energieabgaben stammen aus dem Verkauf von Diesel und Benzin. Die Abgabe eines Elektroautos schlägt mit 0,30 Euro pro 100 km zu Buche – bei einem Benziner beträgt diese rund 4 Euro.

Für Stromproduzenten sehen die Zeiten besser aus. Das bedeutet aber zugleich, dass dringend aufgestockt in CO2- neutrale Stromproduktion und ein stärkeres Netz investiert werden muss.

Ein positiver Effekt, von dem alle profitieren werden, ist die Verbesserung der Luftqualität in den Städten. Die Vorteile der Elektromobilität greifen insbesondere dort, wo Strecken mit Elektroantrieb planbar zurück gelegt werden können. Der Stadtbus, der jeden Tag x-mal auf der selben Strecke verkehrt, aber auch der Bagger oder die Raupe auf der innerstädtischen Baustelle macht reichlich Sinn. Auch z.B. die Müllfahrzeuge, die wegen der Geräuscharmut außerhalb der Rush-Hour ihre Routen fahren können.

In einer Branche, die von so vielen Veränderungen beeinflusst wird, müssen die einzelnen Akteure ihr Geschäftsmodell anpassen oder sie werden vom Markt verschwinden. Die ersten Autobauer haben die Zeichen der Zeit erkannt und schwenken um. E-Autos sind nur der erste Schritt. In Reaktion auf das geänderte Konsumentenverhalten definieren manche Hersteller ihren Markt und ihr zukünftiges Geschäftsmodell komplett neu.

Wir stehen, gerade in Baden-Württemberg, vor der Herausforderung, wie die Transformation vom klassischen Autobauer umgesetzt werden kann, dabei Arbeitsplätze nicht verloren gehen bzw. langfristig gesichert werden und der Klimaschutz im Auge behalten wird. Gerade in der Region Stuttgart und Ludwigsburg findet man in jeder Kommune Unternehmen die direkt oder indirekt von der Automobilindustrie betroffen sind. Es wäre fatal diesen wichtigen Arbeitgebern bei der wirtschaftlichen Transformation, dem Wandel vom Verbrennungsmotor hin zur Elektrifizierten Mobilität, zu verlieren. Ein wirklicher Strukturwandel muss aktiv und konsequent gestaltet werden. Dies bewirkt einen Wandel der Arbeitsplätze. Um Arbeitsplätze langfristig zu sichern muss der Fokus auf das Umschulungs- und neue Ausbildungsangebot gelegt werden um zukünftige Fachkräfte auf diesen Wandel vorzubereiten.

Die wirtschaftliche Transformation gerade im Bereich E-Mobilität sollte uns keine Angst machen. Vielmehr sollten wir gerade jetzt die neuen Chancen der Zeit annehmen und aktiv in die Umsetzung kommen.

Information zu Daniel Haas

Der 32-jährige Familienvater lebt in Freiberg a.N.. Seit mehr als 14 Jahren arbeitet er in der Werbe- und Druckbranche. Der Marketingleiter und Berater für Unternehmenskommunikation, beobachtet ständig aktuelle Trends und Auswirkungen, gerade im Bereich des Mittelstandes. 2021 wird er für die SPD um ein Landtagsmandat im Wahlkreis Bietigheim-Bissingen kandidieren.

Reiner Pfisterer: “Die Rückkehr der Musik”

Ein Gastbeitrag von Reiner Pfisterer – Fotograf und leidenschaftlicher Verfechter guter Musik 

„Früher war alles besser, früher war alles gut.“ Diese Textzeile sang Campino schon 1986 im Stück Wort zum Sonntag – und wenn man die Situation der Kultur und der Kulturschaffenden betrachtet, kommt man sechs Monate nach dem Corona- Lockdown nicht daran vorbei, diesem Satz erst einmal komplett zuzustimmen.

Für Musikbands gab es in den letzten Jahren viele Möglichkeiten, live aufzutreten und damit auch Geld zu verdienen. Vor allem die Anzahl der Sommerfestivals stieg in den letzten Jahren stark an. Die Livebranche boomte, doch auf einen Schlag kam Mitte März die Vollbremsung.

Doch kurz zurück zu den Toten Hosen. Es ist zwar schon eine Weile her, dass ich die Düsseldorfer Punkrocker über viele Jahre hinweg intensiv bei Konzerten und Tourneen begleitete, doch manche Eindrücke sind so stark, als ob es gestern gewesen wäre. Darunter befinden sich auch zwei der eindringlichsten Konzerterlebnisse, die ich bisher erfahren durfte oder musste. Das eine war ein Wohnzimmerkonzert in Buenos Aires, bei dem auf 50 Quadratmetern 50 Besucher und 5 Musiker einen unvergesslichen Abend voller Lachen und grenzenlosem Spaß  hatten. Und dann gab es auf der anderen Seite den tragischen Tod einer jungen Frau beim tausendsten Konzert der Band vor vielen Jahren. Ein traumatisches Erlebnis für Band und Crew! Sie starb aufgrund des unglaublichen Gedränges zu Beginn des Auftritts im vorderen Bereich des ausverkauften Düsseldorfer Rheinstadions im Jahr 1997. Zwei extreme Konzertsituationen, die man sich aktuell kaum mehr vorstellen kann.

Wenn man genreübergreifend ein Synonym für die Situation bei Konzerten des Sommers 2020 sucht, dann ist es weder Körperkontakt, Schweiß noch Enge. Das Wort der Stunde ist Beinfreiheit. Konzerte finden mit Corona-Abstand im Sitzen statt. Das muss man als passionierter Pogotänzer nicht gut finden, aber es ist die neue Realität. Und je schneller wir uns alle mit der  neuen Situation arrangieren, desto leichter fällt es uns, das alles zu akzeptieren und gemeinsam das Beste daraus zu machen und nach vorne zu blicken.

Wer in der Musikbranche wartet, dass der Corona-Spuk endlich vorbei ist, der wird möglicherweise auf der Strecke bleiben. Kreative Konzepte sind mehr denn je gefragt. Zugleich ist die traurige Wahrheit, dass es zur Zeit fast unmöglich ist, mit Livemusik und Konzerten Geld zu verdienen. Sehr viele Veranstaltungen und Festivals sind nur durch staatliche Zuschüsse, persönlichen Enthusiasmus und Sponsoren überhaupt durchführbar. Das Gebot der Stunde ist es, sichtbar zu bleiben und zu zeigen, dass Kultur systemrelevant ist und damit aus unserem Leben – vor und mit Corona – nicht weg zu denken ist. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen, dass die Strukturen, die das alles über Jahrzehnte ermöglichten, erhalten bleiben, denn sie sind die Lebensadern.

Die Initiative #alarmstuferot der Veranstaltungsbranche ist ein dramatischer Hilferuf. Unzählige Existenzen stehen auf dem Spiel.

Da ich seit 30 Jahren unter anderem als Musikfotograf arbeite, bin ich nah an der Branche und an den Nöten der Künstler und Veranstalter dran und natürlich bin ich als Fotograf auch direkt von der Absage vieler Festivals betroffen.

Nach kurzem Besinnen im Frühjahr startete ich mein Fotoprojekt DIE RÜCKKEHR DER MUSIK.  Seither dokumentiere ich im Großraum Stuttgart – meiner Heimat – wie sich die Livemusik ihren Platz und die öffentliche Wahrnehmung zurückholt: Konzerte auf Parkhäusern, in kleinen Zirkuszelten, in Autokinos oder auch nur gestreamt. Klassik in der ausverkauften Stuttgarter Liederhalle vor zugelassenen 99 Zuschauern. Chorproben unter einem Nussbaum, weil Singen in Räumen nur sehr eingeschränkt durchführbar ist oder Trommeln für Demenzkranke in einem Altenheim, da auch die wöchentliche Singstunde aus Sicherheitsgründen gestrichen wurde. Glückliche Senioren, die zu den Klängen von Helene Fischer auf die Trommel schlagen. Dieses Bild des Jahres 2020 wird mir für immer im Gedächtnis bleiben. So wie einst das Wohnzimmerkonzert in Buenos Aires.

In meinem Projekt Die Rückkehr der Musik geht es um die Liebe zur Musik und den unbedingten Wunsch, diese Liebe weiterzuleben.  Es geht nicht nur um die Nöte der Profis, sondern um Lebensqualität und diese ist für ganz viele von uns mit gemeinsamem Musizieren verbunden.

Ich bin mir sicher, dass es eine Zukunft gibt, in der wir wieder mit 15000 Menschen in der ausverkauften Schleyerhalle stehen, singen und feiern werden. Wann das ist, kann im Moment niemand prognostizieren. Doch dann werde ich meine Musikfotos aus der Coronazeit in einer großen Ausstellung zeigen und damit erzählen „was früher einmal war“.

Info:

Der Ludwigsburger Fotograf Reiner Pfisterer ist 1967 in Bietigheim-Bissingen geboren und startete seine Fotografenlaufbahn Anfang der 90er Jahre vorwiegend als Musikfotograf. Im Lauf der Jahre arbeitete er für Künstler wie Metallica,  Muse, Amy McDonald und die Rolling Stones.

Langzeitreportagen über die Jazz Open Stuttgart, die Brenz Band oder die TSG Hoffenheim, sowie Buch– und Ausstellungsprojekte zu gesellschaftlichen und sozialen Themen sind weitere Schwerpunkte seiner Arbeit.

Das Stuttgarter Kammerorchester begleitet er seit dem Jahr 2010 bei Konzertreisen im In-und Ausland. Das Buch „Gut gespielt ist nicht genug. Die Welt des Stuttgarter Kammerorchesters“ ist im August 2020 im Verlag Urachhaus erschienen.

Aktuell arbeitet er an der Serie „ Die Rückkehr der Musik“, einer Dokumentation über Konzerte  und Livemusik unter Corona-Bedingungen.

 

Michael Theurer: “75 Jahre liberaler Neuanfang – Lehren aus der Geschichte”

Ein Gastbeitrag des FDP-Landesvorsitzenden und -Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer

September 1945: Deutschland liegt in Trümmern. Mit der Kapitulation Japans endete der Zweite Weltkrieg, Deutschland diskutiert bereits über Wiederaufbau. In Stuttgart bespricht eine kleine Gruppe, wie es nun weiter gehen soll. Einige waren vor der Machtergreifung in der liberalen Deutschen Demokratischen Partei gewesen, die Kriegsniederlage empfinden sie als Befreiung vom Joch der Nazi-Diktatur. Für die Gruppe um Wolfgang Haußmann und Reinhold Maier ist klar: Der erfolgreiche Aufbau eines demokratischen Deutschlands muss mit marktwirtschaftlichen und sozialen Prinzipien verknüpft und durch die Gründung von Parteien vorangetrieben werden. Nur so kann man Wohlstand und Frieden erreichen. Bereits am 18. September 1945 gründen sie die “Demokratische Volkspartei Groß-Stuttgart”, einen Tag nachdem die Amerikaner lokale Parteigründungen erlauben.

Die Bewegung erhält schnell Zulauf, so dass es bereits im Hungerwinter 1946 beim traditionellen liberalen Dreikönigstreffen in der ungeheizten Stuttgarter Oper zur Gründung der überregionalen Demokratischen Volkspartei (DVP) kommt. Gründungsvorsitzender wird der inzwischen dazu gestoßene Theodor Heuss. Dieser treibt die Gründung der FDP voran und wird am 12. Dezember 1948 ihr erster Vorsitzender, die DVP wird Landesverband der FDP. Dass es vom ersten Tag an wieder Menschen gab, die sich für den Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung eingesetzt haben, war alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil ist es eine Besonderheit des Südwest-Liberalismus, dass seine Wurzeln tief und seine Sprösslinge immer da sind.

Nun ist Tradition aber nicht das Bewahren der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers. Viele der Themen und Ideale der DVP-Gründer sind auch heute, genau 75 Jahre später, noch relevant. Während Haußmann als Justizminister Baden-Württembergs gegen den anfänglichen Widerstand des CDU-Ministerpräsidenten und späteren Bundeskanzlers Kurt-Georg Kiesinger eine strafrechtliche Aufklärung der Nazi-Verbrechen durchsetzt, lehrte Heuss den Bürgern der jungen Demokratie den Pluralismus. Das geht gut zusammen: Auf dem Boden des Grundgesetzes müssen auch abstruse Meinungen diskutiert werden dürfen, darüber hinaus jedoch nicht. Da ist einiges verloren gegangen. Der antiautoritäre  Linksliberalismus, der einmal Grünen und intellektuelle Zirkel der SPD prägte, verblasst hinter Staatshörigkeit, Identitätspolitik, dem Glauben an die eine, eigene Wahrheit. Weil sich die offene Gesellschaft Stück für Stück verschließt und etwa Menschen, die das Problem einer Pandemie anders bewerten, aus dem Diskurs ausschließt, ja gar als Extremisten verächtlich macht, verliert gleichzeitig die Verächtlichmachung ihren Schrecken. Wer wegen Lappalien oder schlicht konservativen Positionen als Nazi bezeichnet wird, für den normalisiert sich diese Bezeichnung – und er verliert seine Immunisierung gegen die echten Feinde der Demokratie.

Es ist auch Reinhold Maier, dem ersten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, zu verdanken, dass die freiheitlich-demokratische Ordnung der jungen Republik und eine demokratische Streitkultur in breiten Bevölkerungsschichten Wurzeln schlagen konnten – er prägte für sein Politikbild “von unten” den Begriff Graswurzeldemokratie. Diese hat funktioniert, weil sie die zentrale Rolle des Mittelstands in der deutschen Gesellschaft anerkannte. Die Mehrheit der Deutschen arbeitet im Mittelstand: Sei es als Freiberufler, Handwerker und Selbständige oder als Angestellte bei einem der tausenden Hidden Champions. Durch den Mittelstand gibt es einen lebendigen ländlichen Raum, eine echte Wahlmöglichkeit für Arbeitssuchende und letztlich auch einen soliden gesellschaftlichen Zusammenhalt durch eine viel breitere Verteilung des Produktivvermögens. Doch den Mittelstand treffen Verbotspolitik und Bürokratie viel härter als einen Großkonzern. Eine Lehre aus den Anfangsjahren der Bundesrepublik muss auch sein, den Mittelstand wieder viel stärker in den Blick zu nehmen.

 

Jakob Novotny: “Wacht auf, liebe Schlafschafe!”

Ein Gastbeitrag von Jakob Novotny.

Ich bin ein freundlicher Mensch, und ich mache gerne Komplimente.

Unser politisches System “Demokratie“ zu nennen, wäre allerdings Lobhudelei.

Vor wenigen Wochen wurde Philipp Amthor der Tatsache überführt, dass er von einer dubiosen US-Firma, die ihre Datenzentren in den USA hat & der Bundesregierung Überwachungstechnik zur Gesichts, Objekt- & Spracherkennung anbieten wollte, Aktienoptionen im Wert von über 250.000 US-Dollar angenommen hat.

Ich will gar jetzt auch nicht zu sehr mit den Details langweilen. Es ist einigen bewusst, dass viele PolitikerInnen während und nach ihren Karrieren Kontakte und Gefälligkeiten an Banken und Konzerne verkaufen. Es ist also kein neues Phänomen, und es ist auch nicht auf die CDU, die viele junge Menschen mittlerweile “Club Deutscher Unternehmer” nennen, beschränkt.

Wieso das so ist?

Korruption in Deutschland ist legalisiert

Weil Korruption in Deutschland legalisiert ist.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat aufgrund einer Strafanzeige geprüft, ob Amthors Verhalten den Anfangsverdacht einer Bestechlichkeit und einer Bestechung von Mandatsträgern ergebe.

Das Resultat: Es lägen keine Erkenntnisse darüber vor, ob Amthor einen ungerechtfertigten Vorteil erhalten habe, weil “mandatsunabhängige Einkünfte grundsätzlich keine verbotenen Zuwendungen seien.“

Bedeutet in einfacherem Deutsch:

Liebe PolitikerInnen, ihr habt freie Hand, euch während eurer Amtszeit so zu verhalten, dass Konzerne euch Summen in die Hand drücken, für die normale Beschäftigte Jahrzehnte brauchen, um sie zu verdienen.

Auf ein Bier mit Amthor

Ob ich ich Amthor persönliche Vorwürfe machen würde, wenn ich ihn auf ein Bier im blauen Engel treffen würde? 

Vielleicht, und ich hätte genug Gründe dafür. Aber ändern würde das nichts. Denn um echten Wandel zu erreichen, müssen bestehende Missstände benannt, Lösungen entwickelt und durch Engagement in sozialen und ökologischen Bewegungen in die Gesellschaft getragen werden.

Denn nicht nur einzelne PolitikerInnen, 5 der 6 Parteien im Bundestag nehmen Großspenden von Konzernen und Unternehmern an. So berichtet die gemeinnützige Organisation abgeordnetenwatch, die sich für mehr Transparenz stark macht, dass sich jedes Jahr unter anderem Wohnungs- Auto-, Tabak & Waffenkonzerne für die finanzielle Sicherheit der Parteien im Bundestag stark machen.

Ölkonzerne sponsern die CDU, Nestlé die Grünen, Wohnkonzerne die SPD

Dass diese Akteure überhaupt so einflussreich geworden sind, liegt an der Tendenz des Kapitalismus, der zu Oligopolen neigt und Konzernen eine große Macht über das Tagesgeschäft von Politikern verleiht, die alle vier Jahre wiedergewählt werden wollen.

Parteien werden dadurch zu Jobvermittlungscentern. Nur wer sich an vorgegebenes anpasst & mit den Mächtigen des Systems Allianzen eingeht, darf regieren. Der Kampf für Gerechtigkeit, eine intakte Umwelt und eine friedlichere Welt? Findet nur auf Wahlplakaten statt.

Dass die Partei der Grünen, die wegen ihrer Realpolitik zu Unrecht davon profitiert, dass junge Menschen monatelang freitags auf die Straße gegangen sind, nicht ausschließen will, mit der CDU zu regieren, die wie keine andere Partei in Deutschland für ein “weiter so“ steht, spricht Bände.

Die Bedürfnisse der Bevölkerung werden zeitgleich immer weniger erfüllt.

Während die 45 reichsten Haushalte in Deutschland soviel wie die unteren 40 Millionen der Bevölkerung besitzen, spricht sich eine Mehrheit dieser für bezahlbareren Wohnraum, eine Reform des Lobbyismus, den Rückzug der Bundeswehr aus Kriegsgebieten und ein Grundeinkommen aus.
Die politische Realität ist allerdings eine völlig andere und die Frage berechtigt: Wessen Interessen werden im Bundestag eigentlich vertreten?

Wessen Interessen vertritt der Bundestag?

Die Probleme unseres politischen Systems innerhalb einer Wirtschaftsform, die wegen ihrem Wachstumszwang eine massive Ungleichheit produziert & gleichzeitig unsere ökologischen Lebensgrundlagen gefährdet, lässt immer mehr Menschen unserer Gesellschaft auf der Strecke.

Darüber hinaus ist eine Gesellschaft, in der nichtmal mehr der Wohnraum sicher ist, während sich Altersarmut weiter manifestiert, ein willkommener Nährboden für rechte Populisten, Demokratiefeinde und Menschen, die sich nicht mehr zu helfen wissen.

Die Bewegung “Querdenken 711“ wird von dieser Orientierungslosigkeit, Unsicherheit und dem fehlenden Klassenbewusstsein eines zugegeben bislang kleinen Teils der Bevölkerung in einem hektischen, postfaktischen Zeitalter, getragen.

Während monatelang gegen eine vermeintliche Corona-Diktatur demonstriert wurde und immer noch wird, geraten wichtige Themen wie die Klimakrise, die massive Wohnungsnot, und das kommende Lobbyregister der großen Koalition, das nach Angaben von abgeordnetenwatch wieder eine Mogelpackung ist, in den medialen Hintergrund.

Nicht Ich. WIR.

Für echten Wandel, Freiheit und den Erhalt unserer Lebensgrundlagen braucht es echte Demokratie & Transparenz, statt Kapitalismus und Korruption. Doch dafür braucht es Menschen, die sich in ihrem direkten Lebensumfeld zivilgesellschaftlich und gemeinsam mit anderen engagieren. Statt ausuferndem, auf scheinbarer Individualität basierenden Konsumismus brauchen wir eine Kultur der Solidarität & Kommunikation, sowie ziviles Engagement.

Politik wird dadurch legitimiert, dass es keinen Widerspruch des Souveräns, der Bevölkerung gibt. Ob dieser Widerspruch in Form von Bürgerjournalismus, kommunalem Engagement, der Mitgliedschaft in Gewerkschaften oder der Teilnahme an systemkritischen Demonstrationen ist, bleibt natürlich jedem selbst überlassen – wichtig ist, dass wir uns gemeinsam unserer eigenen Wirkmächtigkeit bewusst werden und diese für uns und andere nutzen.

 

Info:

Jakob Novotny, 27, der sich nach eigenen Angaben gegen Korruption, Wohnungsnot und für Klimagerechtigkeit engagiert, ruft seine Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, sich stärker zivilgesellschaftlich einzubringen und in den politischen Prozess zu involvieren.
Berufspolitik und die aktuelle Form der Parteiendemokratie werden laut ihm in unseren aktuellen Zeiten nicht ausreichen, um die Gesellschaft zusammenführen um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts meistern zu können.

Wie wichtig sind Kultur und Unterhaltung in diesen Zeiten?

Eine Gastkolumne von Thorsten Strotmann – Magier. Entertainer. Kulturunternehmer.

Humor ist die beste Medizin und stärkt unser Immunsystem. Menschen sind soziale Wesen, die den Kontakt zu anderen Menschen brauchen. Live-Unterhaltung ist etwas völlig anderes, als sich durch TV und Internet berieseln zu lassen. Vor allem in Krisenzeiten war Unterhaltung wichtig und hat bestens funktioniert. Wir haben mit Covid-19 ein neues Virus, allerdings gab es schon immer ebenso gefährliche Viren. Manche haben große Angst und reagieren fast schon panisch, was ungünstig für das Immunsystem ist. Andere haben einen neuen Fokus auf ihre Gesundheit, was sehr gut ist. Fragen, die auftauchen sind: Ist es momentan in Ordnung, Theater zu besuchen? Was wird und was muss sich in der Kulturszene ändern?

Manchen Theatern sind Sicherheitsmaßnahmen sehr wichtig und sie setzen diese um. Wir haben viel Geld investiert und alles Corona-gerecht umgebaut. Ohne Störgefühl oder Sichtbeeinträchtigung.

Ich glaube, dass die Kultur- und Veranstaltungslandschaft umdenken muss. Sich auf Hilfspakete vom Staat zu verlassen oder gar dafür zu demonstrieren, halte ich für kontraproduktiv. Wie lange sollen diese Hilfen gehen? Wem soll man helfen und mit wie viel? Was ist mit anderen, ebenso betroffenen Branchen? Außerdem erschafft der Aufschrei nach Hilfe Hilfsbedürftigkeit.

Die Coronakrise fungiert wie eine Lupe, die aufzeigt, was vorher schon nicht gut funktionierte. Die Probleme werden sichtbarer. Aber ich möchte nicht alles über einen Kamm scheren. Es gibt natürlich auch Schicksalsschläge.

Ich sehe mich als Kulturunternehmer, und trotzdem war ich niemals ein Freund von Subventionen. Subventionen verwässern den Markt und damit die Preise. Durch Subventionen wurden Preise verlangt, mit denen man ohne die Subventionen nicht hätte überleben können. Manche Bühnen konnten trotz der Zuschüsse kaum überleben. Allerdings dürfte einer der Gründe darin liegen, dass keine Rücklagen gebildet wurden. Ebenso ist kaum Geld für notwendige Umbauten vorhanden. Das fliegt jetzt vielen zusätzlich um die Ohren. Andere, die keine Subventionen bekommen haben, haben sich an den Preisen von subventionierten Bühnen orientiert und nicht das Geld verlangt, was es eigentlich hätte kosten müssen. Aus Angst, dass niemand kommt, weil es im Vergleich zu den Mitbewerbern zu teuer ist. Ein Teufelskreis.

Hier muss es ein Umdenken geben. Qualitativ hochwertige Shows und Unterhaltung haben ihren Preis. Wir brauchen dafür Unternehmer mit frischen Ideen, die zudem in der Lage sind, eine lukrative Preisgestaltung umzusetzen. Dadurch kann ein Puffer aufgebaut werden, und mit diesem kann in Krisenzeiten gewirtschaftet werden.

Wahrscheinlich werden viele Künstler, Kulturschaffende, Theater- und Veranstaltungsbetriebe pleitegehen. Der Staat kann nicht alle retten, und das ist auch nicht seine Aufgabe. Der Staat ist keine Versicherung.

Der Staat sind wir, die Bevölkerung. Wenn die Bevölkerung Interesse daran hat, dass Kultur und Live-Unterhaltung wiederaufleben und Künstler wie Theater überleben, dann sollten alle, auch Sie und ich aufstehen und die Unterhaltungsangebote, die mit dem notwendigen Sicherheitskonzept versehen sind, wahrnehmen. Dazu ist es wichtig, sich selbst (und andere) angemessen zu schützen und diejenigen zu unterstützen, die bereit sind, neue und kreative Wege zu gehen. Nur so ist die Kultur-Krise solidarisch und gemeinsam zu meistern.

Hintergrundinfo: Thorsten Strotmann hat zusammen mit seiner Frau Claudia Strotmann vor 11 Jahren die Strotmanns Magic Lounge im Römerkastell Stuttgart eröffnet. 

Regelmäßig, ehrlich und empathisch: Drei Regeln für erfolgreiche Krisenkommunikation

Eine Gastkolumne von Jacqueline Schäfer – Präsidentin des Verbands der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS)

Als soziale Wesen ist für uns eine gelungene Kommunikation Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft. Das wird vor allem in Krisensituationen deutlich. Denn hier kann die richtige oder falsche Ansprache schnell existentiell werden.

Gerade die Corona-Krise hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, einerseits überhaupt die Ansprache zu suchen, andererseits den richtigen Ton zu treffen. Das betrifft die politisch Verantwortlichen genauso wie Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaft oder Führungskräfte in Unternehmen. So unterschiedlich deren Aufgaben und Positionen sein mögen: Sie alle benötigen Rückhalt, um handeln zu können. Eine Grundvoraussetzung dafür ist Vertrauen.

Wer in der Krise Unterstützung will, muss in guten Zeiten die Grundlagen dafür schaffen

Ein zentraler Fehler, den beispielsweise viele Menschen in verantwortlichen Positionen machen, ist, in guten Zeiten auf präventive Maßnahmen zu verzichten. Immer wieder wird damit argumentiert, dass es nicht nötig sei, in Krisenkommunikation zu investieren, schließlich stehe man gut da. Doch Prävention ist die beste Investition, will man von echten Krisen nicht kalt erwischt werden. Was also gilt es zu bedenken?

Regel Nummer eins ist so einfach wie anscheinend schwer zu befolgen: „Kommuniziere regelmäßig!“. Gemeint ist hierbei nicht ausschließlich die Kommunikation nach außen, sondern vielmehr die interne Kommunikation. Eine Vorstandsvorsitzende oder ein Geschäftsführer, die das ganze Jahr für die eigene Belegschaft nicht sicht- oder vernehmbar sind und lediglich zu den Leuten sprechen, wenn es unangenehme Dinge zu verkünden gilt, können schwerlich Vertrauen aufbauen, geschweige denn in schwierigen Situationen auf die Motivation der Mitarbeiter hoffen. Im Gegenteil: Allein die Ankündigung einer Unterrichtung löst schon Ängste und Misstrauen aus. Werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jedoch regelmäßig – allerdings nicht inflationär – von den Führungskräften unterrichtet über gute und schlechte Entwicklungen, dann trägt dies zur Transparenz bei – ein Zeichen von Respekt gegenüber den Mitarbeitern. Der schlimmste Fehler, den ein Unternehmen oder eine Institution machen kann, ist, zunächst die Öffentlichkeit zu informieren. Ob Deutsche Bank oder Remstal-Werkstätten – über Arbeitsplatzabbau oder Lohnkürzungen haben die Betroffenen aus der Zeitung erfahren. Ein Unding.

Dabei haben gerade während der Corona-Pandemie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den unterschiedlichsten Branchen viel Verständnis für die Situation der Unternehmen gezeigt. Dies geschah vor allem dann, wenn die Unternehmensleitung offen kommuniziert hat. Ohne zu beschönigen und ohne zu dramatisieren. Und damit sind wir bei Regel Nummer Zwei: „Kommuniziere ehrlich!“

Nicht beschönigen, nicht dramatisieren

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder galt nie als ein deutschlandweiter Politstar. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte nach langer Amtszeit deutlich an Popularität eingebüßt. Das alles hat sich seit Corona verändert, Merkel und Söder sind nach wie vor laut Umfragen die derzeit beliebtesten Politiker, auch wenn Söder aktuell Einbußen wegen des Testdebakels hinnehmen muss. Ein Grund dafür ist deren Art der öffentlichen Kommunikation. Beide widerstanden der Versuchung, die Gefahr durch das Virus herunterzuspielen, Sicherheit vorzutäuschen oder zu dramatisieren.  Sowohl die Bundeskanzlerin als auch der bayerische Ministerpräsident sprachen in Reden und Pressekonferenzen immer wieder an, dass jede Entscheidung immer nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse getroffen würde. Anders als beispielsweise Boris Johnson in Großbritannien, der zunächst die Folgen des Virus negierte, bekannten sich deutsche Spitzenpolitiker fast aller Parteien dazu, sich in einem permanenten Lernmodus zu befinden. Politik zu Pandemiezeiten bedeutet, auf Sicht zu fahren. Diese Ehrlichkeit zahlt sich aus: Nie war das Zutrauen in die Politik in Deutschland in den letzten Jahren höher als heute. Es zeigt sich, dass das Zugeben von Schwäche („Das ist das, was wir derzeit wissen, morgen kann es anders sein“ – „Die nächsten Wochen werden noch schwerer.“) gepaart mit dem Bemühen, das eigene Handeln zu erklären, statt nur etwas anzuordnen, vertrauensbildend wirkt. Dazu kommt das Befolgen von Regel Nummer Drei: „Kommuniziere empathisch!“ Gerade Bundeskanzlerin Merkel, bekannt für ihre eher zurückhaltenden und nüchternen Ansprachen, überzeugte durch Einfühlsamkeit: „Wir kennen Zuwendung als körperliche Nähe oder Berührung….Im Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge.“

Verständnis zu zeigen erleichtert es, das Notwendige zu fordern, auch wenn dies mit Härten verbunden ist. Empathie ist keine Schwäche, sondern das, was uns als soziale Wesen ausmacht. Das muss sich auch in der Kommunikation widerspiegeln. Gerade in der Krise.

Info: Jacqueline Schäfer ist Präsidentin des Verbands der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS). Die gelernte Journalistin lebt in Berlin und ist deutschlandweit als Medientrainerin, (Krisen)Kommunikationsberaterin und Ghostwriterin für Politik und Unternehmen tätig.

Call me by my name!

Eine Gastkolumne von Gülseren Şengezer

Sie weisen Rassismus weit von sich. Sie verurteilen ihn und würden niemals das N-Wort in den Mund nehmen oder die Straßenseite bzw. ihren Sitzplatz im Bus wechseln, wenn ein Schwarzer Mensch sich Ihnen nährt. Das ist prima! Rassismus fängt aber nicht erst mit diesen Verhaltensformen an und endet bei einem Polizisten, der auf dem Hals eines Schwarzen sitzt, während er dabei gemütlich seine Hände in die Hosentasche steckt. Rassistische Diskriminierung fängt schon viel früher an. Hier ein kleiner Test: Wann haben Sie sich das letzte Mal bemüht einen nicht-deutschen Namen richtig auszusprechen?

Ich heiße Gülseren Şengezer. Alle „R´s“ in meinem Namen müssten gerollt werden. Das „S“ in meinem Vornamen ist stimmlos, das „S“ in meinem Nachnamen müsste mit einer Cedille, einem Häkchen geschrieben – also „Ş“ – und dann wie ein „Sch“ ausgesprochen werden. … Sind Sie hier schon raus? Ist das zu viel des Guten? Zu viel Differenzierung? Ich würde sagen, das ist eine weit verbreitete Haltung weißer [1]  Menschen in Deutschland bei nicht-deutschen Namen keine Mühe zu zeigen, ihn richtig aussprechen zu wollen. Auch das ist rassistische Diskriminierung!

Ich habe die Verunglimpfung meines Namens schon so oft erlebt, dass ich irgendwann angefangen habe eine Liste darüber zu führen. Die phantasievollste Variante darunter war „Schöngießer“. Nun schreit der eine oder die andere gleich: Das Problem kennt eine Frau Leutheusser-Schnarrenberger oder eine Frau Kramp-Karrenbauer auch. Die Nachnamen der beiden Frauen enthalten objektiv betrachtet tatsächlich viele Buchstaben und stellen eine echte Herausforderung für den lingualen Muskelkörper aller Erdenbürger dar. Aber, diese Frauen sind weiße Frauen. Und werden ihre Namen falsch ausgesprochen, geht es um einen Versprecher, bei People of Color (PoC) [2]  geht es um Ignoranz und Arroganz.

PoC erleben in diesem Kontext auch immer ein Moment, das ähnlich wie Sexismus manchmal schwer greifbar ist, nicht eindeutig. Es schwingt unterschwellig im Raum und macht den Umgang damit schwierig: es ist dieses diskriminierende Moment, in dem das Gegenüber zu seiner eigenen Bequemlichkeit meinen Namen falsch ausspricht oder ihn sogar eindeutscht. Das alles ist ein Ausdruck von Privilegien [3] weißer Menschen, die diese gegenüber Menschen anwenden, die sie als „anders“ markieren. Bewusst oder unterbewusst sind sie der Auffassung, dass weiß die Norm ist.

Welcher Hans oder welche Annegret wird beim ersten Kennenlernen gefragt, ob er Hansi oder Anni genannt werden dürfe? Ich wurde ständig gefragt, ob ich einen Spitznamen hätte. „Gülseren“ sei zu lang. Ungefragt kamen sogleich die skurrilsten Vorschläge.

Diese Form der Diskriminierung ist kurz und schmerzvoll – wie der Stich einer Mücke, der schnell wieder abklingt. Innerlich ist der Impuls vorhanden, etwas dagegen sagen zu müssen, aber der diffuse Charakter der Erniedrigung macht es schwer eine adäquate Reaktion zu zeigen. Außerdem wird man als Person of Color früh konditioniert in migrantischen Fragen nicht aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Oft ist man es als PoC Leid mit solchen Menschen zu diskutieren. Ja, es macht müde, weil es Energie kostet. Wenn man sich doch darauf einlässt, gilt man als „anstrengend“ oder „hypersensibel“. Für PoC ist der Elefant im Raum deutlich zu sehen, auf dem groß „Diskriminierung“ steht.

Als ich während meiner Schulzeit im damals coolsten Mainzer Klamottenladen gejobbt habe, hat mein Chef mich eigenmächtig „umgetauft“! Gülseren war ihm zu kompliziert. Ich war für ihn nur noch die Ilse. Dessen nicht genug, hat er auch ständig das Lied von der Ilse Bilse, die keiner will, quer durch den Laden geträllert. Damals als Teenager fehlte mir der Mut, mich zu wehren und auch das Bewusstsein, dass mein Name Teil meiner Persönlichkeit ist und niemand das Recht hat, ihn zu verballhornen. Natürlich hatte ich auch Angst möglicherweise meinen Job zu verlieren.

Diese Herabsetzung zu decodieren hat lange gedauert. Rückblickend ist das Verhalten dieses privilegierten weißen Mannes nichts anderes als rassistische Diskriminierung und ein typisches Muster eines gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisses von Weißen.

Wie ich schon eingangs geschrieben habe, geht es an dieser Stelle nicht um die Verhandlung des hässlichen weißen Rassismus, nicht um das offensichtlich Böse, sondern um die alltäglichen latenten Erniedrigungen. Die Verunglimpfung meines Namens mag harmlos erscheinen, in Relation zu schwerwiegenden Fällen von rassistischer Gewalterfahrung oder Diskriminierung bei der Job- bzw. Wohnungssuche, aber sie ist eine Variante davon.

Dennoch sind die Abwehrreflexe selbst darauf voraussehbar. Die Zweifler fühlen sich durch solche rassistischen Erfahrungsberichte stets angegriffen. Meine Schilderungen werden sicherlich als singuläre und subjektive Ereignisse abgetan. Noch schlimmer, sie zweifeln solche Erfahrungen oft an und versuchen reflexartig diese zu relativieren oder wollen keinen Zusammenhang zum „Anderssein“ erkennen. Die Soziologin Robin DiAngelo hat für diese ablehnende Reaktion den Begriff „white fragility” geprägt, was mit „weißer Zerbrechlichkeit“ übersetzt werden kann. Ein Blick in die Kommentarleisten zu Anti-Rassismus-Texten im Netz zeigt was DiAngelo damit meint.

Glaubhaft sind rassistische Erfahrungen für diese weißen Zweifler erst dann, wenn sie objektiv in Form von Zahlen oder Statistiken gemessen werden. Fakt ist: Bisher werden Studien zu Gleichstellungsdaten in Bezug auf Diskriminierung in Deutschland nicht erhoben. Deutschland sträubt sich bislang gegen die Erfassung seiner Bürger nach ethnischen Kriterien. Ein ganz aktuelles Beispiel für die institutionelle Abwehrhaltung einer Selbstreflexion offenbar die deutsche Bundesregierung. Sie möchte zurzeit den Rassismus in der Polizei wissenschaftlich nicht untersuchen lassen. Akademische Studien hinken der erlebten Wirklichkeit immer hinterher. Diskriminierung und Rassismus sind aber nicht nur wissenschaftliche Terminologien. Sie sind Praxis und alltägliches Handeln, denen PoC ausgesetzt sind.

Negieren führt also nicht weiter und löst kein Problem. Vielmehr müssten weiße Menschen anfangen ihre Perspektive zu wechseln und sich selbst auf den Prüfstand stellen und dabei den Blick auf ihr eigenes Weißsein richten. „Critical Whiteness“, die “kritische Weißseinsforschung” beschreibt Weißsein als übersehenes Privileg innerhalb des Rassimusdiskurses. „Critical Whiteness“ geht davon aus, dass People of Colour von Weißen als abweichend wahrgenommen werden. Weiß entspricht in diesem Konstrukt der Norm.

Wer Rassismus bekämpfen möchte, muss erkennen wie sehr er als Weißer der Nutznießer dieser Privilegien ist. Dieser Erkenntnisprozess könnte Unbehagen auslösen, denn es besteht die Gefahr, dass sie feststellen, dass es die Opfer von Rassismus nur gibt, weil es auch weiße Täter gibt.

Zurück zu meiner ursprünglichen Frage. Können Sie sie am Ende dieser Kolumne beantworten? Wann haben Sie sich das letzte Mal bemüht, einen nicht-deutschen Namen richtig auszusprechen? Ich selbst wurde sehr selten nach der richtigen Aussprache meines Namens gefragt. Das aber wäre ein guter Ausgangspunkt, um aus dem Elefanten eine Mücke zu machen.

 


[1] „Weiß“ hier kursiv geschrieben, bezieht sich nicht auf die Hautfarbe, sondern auf kulturelle und politische Konstruktionen, die im Kolonialismus als Norm etabliert wurden, mit dem Ziel, Privilegien der eigenen Gruppe und Rassismus zu legitimieren.

[2] People of Color (Singular: Person of Color) ist eine selbst gewählte Bezeichnung von Menschen, die sich als nicht-weiß definieren. PoCs verbindet ihre Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen seitens der Mehrheitsgesellschaft und die kollektive Zuschreibungen des „Andersseins“.

[3] Dieser soziologische Begriff beschreibt die Kultur weißer Gesellschaften, in denen ständig Signale ausgesendet werden, dass weißdie menschliche Norm sei, quasi ein menschliches Ideal. Nicht-weiß entspricht in dieser Konstruktion einer Abweichung von diesem Ideal. Das weiße Privileg als „normal“ wahrgenommen zu werden manifestiert sich im Alltag, z. B. bei der Job- oder Wohnungssuche, in Schulen bzw. auf der Arbeit oder im öffentlichen Raum. Hier werden privilegierte Weiße nicht mit stereotypen Zuschreibungen, verweigerten Zugängen oder diskriminierendem Verhalten konfrontiert. Privilegierte müssen sich mit Diskriminierung und der daraus folgenden Ungerechtigkeit erst gar auseinandersetzen.

ZUR PERSON:

Gülseren Şengezer ist eine deutsch-schwedische Filmemacherin und Journalistin mit kurdischen Wurzeln.

Geboren 1974 in Tunceli in der Türkei, zog sie mit ihrer Familie im Alter von 6 Jahren nach Deutschland. Ihr Studium der Pädagogik, Psychologie und Soziologie schloss sie im Jahre 2000 ab. Im selbigen Jahr bis 2013 arbeitete Gülseren Şengezer als Redakteurin beim Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) in Mainz.

  • 2010 erhielt sie für ihre Dokumentation „Die Brandkatastrophe von Ludwigshafen: Das Leben danach“ den Mainzer Journalistenpreis.
  • 2013 wechselte Gülseren Şengezer erneut ihren Lebensmittelpunkt und zog in die schwedische Hauptstadt Stockholm.

 

„Wer ist hier eigentlich der Chef hier bei den Grünen?

Eine Kolumne von Swantje Sperling, Gemeinderätin der Stadt Remseck am Neckar, Sprecherin des Kreisvorstands der BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN im Landkreis Ludwigsburg

„Wer ist hier eigentlich der Chef hier bei den Grünen?“ – Ich stehe dem Fragenden, immerhin einem politischen Mandatsträger, etwas ratlos gegenüber: „Wie meinen Sie das?“ Antwort: „Naja wer ist denn der Vorsitzende der Grünen im Kreis?“.
Der Groschen fällt: „Bei uns nennt sich das Sprecher*in. Wenn Sie das mit Chef meinen, dann bin ich das.“

Eine Erfahrung, die so keiner meiner Vorgänger, die hier ihre Gedankensplitter veröffentlichen durften, mit mir teilt. Das ist erklärlich. Wenn sie danach gefragt werden, wer denn hier der Chef, der Abgeordnete oder der Entscheidungsträger ist, dann sind es die Herren ja meist sie selbst. Sie erleben weitaus seltener Diskriminierung, auch keine sprachliche.

Empfindsamkeit für Ungerechtigkeit entsteht meist, wenn man sie selbst erlebt oder zumindest nachfühlen kann. 75 Prozent der systemrelevanten Berufe  – vom Gesundheitswesen über die Altenpflege und den Einzelhandel bis zur Kita – werden von Frauen ausgeübt, meist massiv unterbezahlt. Das hat viele Gründe, wird aber trotz des öffentlichkeitswirksamen Klatschens nicht wirklich bekämpft. Für mich liegt einer der Gründe in der mangelnden Repräsentanz der Frauen in unseren Parlamenten. Dort, wo die Rahmenbedingungen für gerechte Entlohnung und die Aufwertung von Berufsgruppen unter anderem gelegt werden. Über drei Jahrzehnte waren männliche Abgeordnete in Bund und Land fast unter sich. Mehrheitlich ein Herrenclub – noch immer. Der Landtag von Baden-Württemberg ist das einzige deutsche Landesparlament, in dem noch nie ein Anteil von wenigstens 30% weiblichen Abgeordneten erreicht wurde. Keine gute Lobby für die 75 % hart arbeitenden systemrelevanten Frauen. Dabei möchte ich ausdrücklich nicht, dass Geschlechtergerechtigkeit alleine den Frauen als Thema überantwortet wird. Weibliche Repräsentanz alleine bedeutet nicht automatisch eine geschlechtergerechte Politik. Die politischen Führerinnen der Welt, von Margaret Thatcher bis Angela Merkel, machen es vor – auch als Frau kann man geschlechterspezifische Problemlagen ignorieren

Was hier zu tun ist – nicht weniger als ein gesamter struktureller Wandel. Im Denken wie im Handeln. Vor allem im Bereich der bezahlten wie auch unbezahlten (da privaten) Care-Arbeit, also des sich „um Andere Kümmerns“.

Jegliches Handeln beginnt allerdings mit Sprache. Und diese Sprache bestimmt, wie wir unsere Umgebung und andere Menschen wahrnehmen und bewerten. Sie bestimmt unser Denken und unser Handeln, sogar unsere Körperbewegung. Und dabei sind Wörter nur die Spitze des Eisbergs – hinter einzelnen Ausdrücken konstruiert unser Gehirn einen ganzen Deutungsrahmen, der aus unseren Erfahrungen mit der Welt resultiert. Abhängig von unserer Wortwahl werden bestimmte Fakten und Realitäten hervorgehoben. Andere treten in den Hintergrund.

Ein konkretes Beispiel sind die Wörter „Klimawandel“ und „Klimakrise“. Eigentlich drücken sie das gleiche aus. Die Erwärmung unseres Klimas mit allen Konsequenzen. Doch mit zwei völlig unterschiedlichen Deutungsrahmen. Das Wort Wandel ist von jeher sprachlich neutral, im häufigeren Sprachgebrauch positiv besetzt. Ja, oft geschieht ein Wandel auch von selbst, ohne menschliche Einwirkung.
Das Wort „Krise“ ist hingegen nie positiv besetzt.

Was ich mir wünsche: dass wir unsere gesamte Sprachwahl überdenken. Und zwar nicht nur, wenn einzelne eine Freude daran zu haben scheinen, sich über Gendersternchen und eine vermeintliche Verschandelung der Sprache zu echauffieren. Vor allem, wenn sie zuvor selbst nicht durch besondere Spracheleganz aufgefallen sind. Wenn dies dazu führt, dass wir grundsätzlich über die Deutungsmacht von Sprache nachdenken – dann wäre diese Debatte ein Gewinn.
Es geht um unseren gesamten Sprachgebrauch und unseren Blick auf die Welt.
Blicken wir gemeinsam darauf!

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